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Spätestens morgen würde er nach KingÕs Lynn aufbrechen. Sie mussten miteinander reden. Besprechen, wie die nächsten Wochen aussehen sollten. Wie sich mögliche Änderungen im Familienleben mit Kim am besten und schmerzlosesten vereinbaren ließen.
Kim.
Er starrte das Telefon an.
Kim, komm zurück! Wo bist du? Komm zurück, alles wird gut!
Die nächste Stunde, das war ihm klar, würde zu den längsten seines bisherigen Lebens zählen.

Dienstag, 5. September1
E
s war kurz vor sechs Uhr am Morgen, als das Taxi die Auffahrt zu Ferndale House hochfuhr. Es regnete. Der Fahrer blendete die Lichter auf, gespenstisch anmutend tanzten sie den gewundenen Weg zwischen den dunklen, nassen Bäumen entlang.
Der Wagen hielt vor dem Haus, hinter dessen Fenstern noch alles dunkel war. Nirgends brannte eine Lampe. Nebel spannte sich wie ein feines Netz zwischen den Schornsteinen. Der Morgen erinnerte an den späten Herbst. Hätte nicht so viel Laub noch an den Baumästen gehangen, es hätte ein anbrechender Novembertag sein können.
Die Haustür öffnete sich, und Livia trat heraus. Sie trug Jeans und Turnschuhe und eine blaue Regenjacke. In der Hand die Tasche mit den Kleidungsstücken, die sie von Virginia bekommen hatte.
Der Fahrer stieg aus und öffnete ihr die hintere Wagentür. »Ich bin pünktlich«, sagte er stolz.
Livia nickte. »Ja. Danke schön.«
»Also, zum Bahnhof?«, vergewisserte er sich.
Sie nickte. »Zum Bahnhof.«
Er ließ den Motor wieder an, wendete das Auto.
»Und wohin sollÕs dann gehen?«, fragte er.
»Nach London.«
»Ich weiß aber nicht, ob so früh schon ein Zug fährt.«
»Das macht nichts. Ich warte, bis einer kommt.«
Sie fuhren die Auffahrt wieder hinunter. Der Fahrer hatte das Tor zum Park offen stehen lassen. Jenseits der Mauer traten die Bäume weiter auseinander, der Morgen wurde ein wenig heller. Aber der Nebel lag wie Blei über den Feldern, und die Luft war voller Regen.
»Kein schönes Reisewetter«, bemerkte der Fahrer. Er erhielt keine Antwort. Als er einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf, sah er, dass sein Fahrgast weinte.
Er schaltete das Radio ein, nahm die Lautstärke aber so weit zurück, dass nur er gerade noch die Nachrichten verfolgen konnte. Wenn er sich schon nicht unterhalten durfte, wollte er wenigstens eine Stimme hören.
Arme Frau. Wie ausgemergelt sie war und wie bedrückt sie schien. Nein, nicht bloß bedrückt. Er spähte noch einmal unauffällig nach hinten.
Verzweifelt. Richtig verzweifelt.
Armes Ding!

2
Holst du mich auch nach der Schule ab, Mum?«, fragte Kim. Sie saß hinten im Auto, die Schultasche auf dem Schoß, und sah sehr blass und schmal aus.
Sie hatte wie Espenlaub gezittert, als Virginia und Nathan sie in der vergangenen Nacht in dem Baumhaus gefunden hatten; sie hatte Stunden dort verbracht, war völlig durchgefroren, übermüdet und verängstigt gewesen. Nathan hatte sie durch den Wald zurückgetragen, Virginia hatte ihm den Weg geleuchtet. Sie hatte sofort mit ihrer Tochter einen Arzt aufsuchen wollen, aber Nathan hatte gemeint, damit rege man das Kind nur noch mehr auf.
»Sie braucht heiße Milch mit Honig, ein warmes Bad und viel Ruhe«, hatte er geraten, und schließlich hatte sich Virginia seiner Ansicht angeschlossen. Sie war aufgewühlt bis in ihr Innerstes. Noch nie hatte sie ihre fröhliche, ausgeglichene Tochter in solch einem Zustand erlebt.
»Warum hast du dich dort versteckt?«, fragte sie, als die Kleine im Bett lag, einen dicken Schal um den Hals und warme Socken an den Füßen.
»Ich wollte mich nicht verstecken«, sagte Kim. »Ich wollte nur dort sein, und dann war es irgendwann dunkel, und da hab ich mich nicht mehr durch den Wald getraut.«
»Aber warum wolltest du dort sein? An einem regnerischen, kühlen Spätnachmittag? Bei so einem Wetter ist es doch gar nicht schön in einem Baumhaus!«
Kim hatte geschwiegen und den Kopf zur Seite gewandt.
»Ich weiß, dass du traurig warst, weil ich an deinem ersten Schultag nicht da war«, hatte Virginia gesagt, »und es tut mir entsetzlich leid, dass das passiert ist. Ich dachte nurÉ du bist immer so gern drüben bei Grace. Ich war wirklich überzeugt, du würdest mich nicht vermissen!«

S
päter, nachdem sie mit Frederic in London telefoniert hatte und als Kim endlich eingeschlafen war, hatte sie das Gleiche zu Nathan gesagt. Sie traf ihn in der Küche an, wo er am Kühlschrank stand und ein Glas Milch trank. Er sah angegriffen aus. Sie wusste, dass er lange mit Livia gesprochen hatte.
»Klar ist sie immer gern bei Grace«, hatte er gesagt, »aber diesmal war die Situation nicht wie sonst. Du warst nicht einfach nur weg. Sie hat mitbekommen, dass die Erwachsenen, allen voran ihr Vater, nicht wussten, wo du steckst. Kinder haben feine Antennen. Dass da im Augenblick etwas zusammenbricht zwischen ihren Eltern, weiß sie zwar noch nicht, aber das Beben der Erde spürt sie durchaus. Es kommt etwas Bedrohliches auf sie zu, und deshalb ist sie in dieses Baumhaus geflüchtet.«

V
irginia hatte sich an den Küchentisch gesetzt, den Kopf in beide Hände gestützt. »Wir machen so viel kaputt«, flüsterte sie, »wir richten so viel Zerstörung an!«
»Das war uns bewusst«, sagte Nathan.
Sie sah ihn an. »Du hast mit Livia gesprochen?«
»Ich habe es versucht.«
»Versucht?«
»Sie weint die ganze Zeit nur. An ein Gespräch war im Grunde gar nicht zu denken. Zwischendurch fängt sie immer wieder mit dem Schiffsuntergang an. Dabei bricht sie dann fast zusammen. Alles, was ich ihr sonst sage, scheint sie gar nicht richtig wahrzunehmen.«
»Sie ist völlig traumatisiert. Und jetzt auch noch dasÉ«
»Ja«, sagte Nathan, »jetzt auch noch dasÉ«
Er hatte sich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt und ihre beiden Hände in seine genommen. Es war Magie in dieser Berührung, genauso wie in den vergangenen Tagen in Dunvegan.
»Aber ich kann nicht zurück«, sagte sie, »ich kann nicht mehr von dir lassen.«

E
r hatte nichts erwidert, sie nur angesehen. Ein einziges Licht brannte in der dunklen Küche. Sie hatten Stunde um Stunde so gesessen, schweigend, einander an den Händen haltend. Irgendwann waren sie ins Wohnzimmer gegangen, hatten sich eng aneinandergeschmiegt auf das Sofa gekuschelt und zu schlafen versucht. Sie steckten noch in ihren Kleidern, und es war schmal und unbequem, und bis auf ein gelegentliches Wegdämmern schliefen sie nicht wirklich. Aber es war eine Nacht, die Virginia wie verzaubert schien. Als sie am nächsten Morgen mit steifen Knochen und schmerzendem Rücken aufstand, waren ihre Schuldgefühle gegenüber Frederic und vor allem Kim nicht kleiner geworden, aber die Sicherheit, dass Nathan ihr einziger Weg war, hatte sich noch mehr verfestigt.
Nun saß sie im Auto, hatte soeben vor Kims Schule gehalten, und als Kim fragte, ob sie am Nachmittag von ihrer Mutter auch abgeholt würde, war sie kurz versucht, ihr eine rasche, beruhigende Antwort zu geben. Doch dann dachte sie, wie wichtig es war, dass sie inmitten dieser Situation nicht auch noch das Vertrauen beschädigte, das Kim ihr trotz allem entgegenbrachte.
»Ich weiß nicht, ob ich dich abholen kann«, sagte sie. »Daddy kommt gegen fünf Uhr mit dem Zug aus London. Ich werde ihn wahrscheinlich am Bahnhof abholen müssen. Er hat kein Auto dort stehen.«
Frederic hatte ihr noch in der Nacht angekündigt, zwecks Klärung der Situation so schnell wie möglich nach Ferndale zu kommen und am nächsten Tag gegen fünf Uhr in KingÕs Lynn einzutreffen. Den Wunsch, ihn am Bahnhof erwarten zu dürfen, hatte er ihr sofort abgeschlagen, aber Virginia spielte mit dem Gedanken, es dennoch zu tun. Irgendwie erschien es ihr klüger, ihrer beider erste Begegnung auf neutralem Boden stattfinden zu lassen. Auch hätte sie das Gespräch mit ihm gerne in einem Café oder Restaurant geführt, nicht daheim im Wohnzimmer. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb ihr dies leichter erschien. Vielleicht lag es an den Stunden und Tagen, die sie mit Nathan in Ferndale verbracht hatte. Das Haus atmete bereits ihrer beider Geschichte, obwohl es dort kein sexuelles Zusammensein zwischen ihnen gegeben hatte. Aber die vergangene Nacht wog für Virginia mehr als jede einzelne ihrer leidenschaftlichen Umarmungen auf Skye. In der vergangenen Nacht waren ihre Seelen verschmolzen. Sollte sie in wenigen Stunden auf demselben Sofa sitzen und mit Frederic reden?
»Aber wer holt mich dann ab?«, fragte Kim. Sie hatte bläuliche Schatten unter den Augen.
»Es wird ganz bestimmt jemand da sein«, versprach Virginia. »Vielleicht Grace, wenn es ihr besser geht. Vielleicht Jack, wenn er bis dahin zurück ist. VielleichtÉ«
»Ja?«
»Vielleicht Nathan. Wäre dir das recht?«
Kim zögerte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.03.2007