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Warum tat er das? Warum konnte er damit nicht aufhören? Und warum empfand er einen so schrecklichen, fast körperlichen Schmerz dabei? Er hätte von sich selbst stets geglaubt, zu sachlich, zu nüchtern zu sein für derartige Emotionen. Wenn die Frau fremdging, dann litt ein Mann nicht wie ein Hund. Gegen Kummer, gegen Enttäuschung gab es die Mechanismen, die man über den Verstand einschaltete, und die verhinderten, dass man zum Spielball dessen wurde, was im eigenen Inneren vor sich ging. Man ließ Emotionen, gute wie schlechte, nicht Macht über sich gewinnen. Frederic hatte stets an den Sieg des Intellekts über die Gefühle geglaubt.
Allerdings war das weit vor allen Überlegungen gewesen, Virginia könnte ihn verlassen, sich einem anderen Mann zuwenden. Virginia war die Frau seines Lebens, die Frau, mit der er alt werden wollte, daran hatte es nie den mindesten Zweifel gegeben. Er hatte vorausgesetzt, dass sie ebenso empfand. Offenbar hatte er sich gründlich getäuscht. Und zu seinem Entsetzen hatte er der Schärfe des Schmerzes nichts entgegenzusetzen. Er war ihm vollkommen hilflos ausgeliefert.

V
erzweifelt versuchte er, seit er wieder in London war, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. Seine Termine wahrzunehmen, sich um wichtige Menschen zu kümmern, all das zu tun, was für diese Woche auch vor dem Eintritt der Katastrophe auf seinem Programm gestanden hatte. Es war weniger die Sorge um seine Karriere, die ihn dazu trieb, eher der Versuch, nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hätte er sich in seine Wohnung gesetzt und die Wände angestarrt, hätte er den Verstand verloren oder sich ständig sinnlos betrunken. Er musste in der Struktur eines ganz gewöhnlichen Tagesablaufs bleiben, das war seine einzige Chance.
Chance worauf?, fragte er sich. Nicht verrückt zu werden? Herauszufinden, was er tun sollte? Den Schmerz niederzuringen? Hass und Wut und Verzweiflung in sich nicht dominieren zu lassen?
Etwas von all dem. Vor allem aber war es die Chance, nicht ununterbrochen grübeln zu müssen. Wenigstens dann, wenn er einem Gesprächspartner gegenübersaß und sich auf dessen Anliegen konzentrieren musste, hörte die Mühle in seinem Kopf auf, sich zu drehen.
An diesem Abend jedoch hielt er das Gerede, das Gelächter, die Heiterkeit, die Scherze fast nicht mehr aus. Zu groß war die Diskrepanz zu dem, was sich in seinem Inneren abspielte.

U
m kurz nach zehn erklärte er, unter starken Kopfschmerzen zu leiden, was niemanden verwunderte, denn seine Schweigsamkeit, seine Geistesabwesenheit waren den anderen die ganze Zeit über schon aufgefallen. Er nahm ein Taxi, ließ sich durch die Nacht fahren, die von den tausend verschiedenen Lichtern der Großstadt erleuchtet wurde. Den ganzen Tag lang hatte er sich um Möglichkeiten gerissen, sich abzulenken. Jetzt auf einmal sehnte er sich danach, sich in seiner Wohnung zu verkriechen. Wie ein krankes Tier in seiner Höhle.
Er hörte das Telefon klingeln, als er gerade den Schlüssel ins Türschloss steckte. Das Schloss klemmte, hektisch fingerte er daran herum. Mit einem Sprung war er am Apparat.
»Ja?«, fragte er, bemüht, nicht atemlos zu klingen. Er ärgerte sich über die Inbrunst, mit der er hoffte, es handele sich bei dem Anrufer um Virginia, aber zugleich glaubte er nicht, dass sie sich bei ihm melden würde. Er war tief erstaunt, als er ihre Stimme hörte.
»Frederic? Ich dachte schon, du bist nicht da. Ich wollte gerade wieder auflegen.«
»OhÉ Virginia. Ich bin eben erst nach Hause gekommen.« Sie soll ruhig glauben, dass ich ein ganz normales Leben führe und keineswegs zu Tode verletzt herumsitze, dachte er und fand sich selbst dabei kindisch.
»Ich war mit Bekannten beim Essen«, erklärte er.
»Ich bin in Ferndale«, sagte Virginia. Übergangslos setzte sie hinzu: »Kim ist verschwunden.«
»Was?«
»Grace hat sie von der Schule abgeholt, sich dann aber wegen ihrer Grippe ins Bett gelegt. Als sie ein paar Stunden später aufwachte, war Kim verschwunden.«
»Das gibt es doch gar nicht!«
»Sie ist fort. Ich bin schon an allen möglichen Orten im Park gewesen, aber nirgends gibt es eine Spur von ihr. Ich bin völlig verzweifelt. IchÉ«
»Ich komme sofort«, sagte Frederic.

I
hr Zögern war lautlos und doch so spürbar durch den Telefonapparat, dass Frederic nach einer Sekunde des Staunens begriff. Es überraschte ihn, wie intensiv der Schmerz war, trotz der Sorge um sein Kind.
»Verstehe«, sagte er, »dein Liebhaber ist da. Im Augenblick passe ich da vermutlich nicht ins Konzept.«
»Spielt das jetzt eine Rolle?« »Warum soll ich dann nicht kommen?«
Sie klang erschöpft und deprimiert. »Ich habe nicht deswegen gezögert«, sagte sie, »es war nurÉ«
»Ja?«
»Ich warÉ ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. Ich hatte gefürchtetÉ dass Kim bei dir ist. Offensichtlich ist sie es nicht, aber wenigstens wüsste ich sie dann in Sicherheit.«
Jetzt war er für einen Moment sprachlos. »Du dachtest, sie ist bei mir?«, fragte er dann.
»Ja.«
»Weshalb sollte sie hier sein? Weshalb sollte ich sie einfach mitnehmen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen?«
Sie atmete tief. »Um mir meinen Ausflug nach Skye heimzuzahlen«, sagte sie.
Während er um Fassung rang, völlig perplex, mit einer solchen Anschuldigung konfrontiert zu werden, sagte Virginia: »Ich werde jetzt die Polizei anrufen. Sie müssen sofort etwas unternehmen.«
»Du glaubst, ich fahre schnell von London nach KingÕs Lynn, hole mir irgendwie unbemerkt Kim aus dem Haus der Walkers, rase mit ihr nach London zurück, nur um auf diese abartige Weise mit meiner Kränkung fertigzuwerden?«
»Es ist doch jetzt gleichgültig, was ich geglaubt habe. Wichtig ist nur, dass wir Kim finden.«
Sie hatte Recht. Es war nicht der Moment, sich auseinander zu setzen. Dafür würde später Zeit sein. Viel später.
Ihm kam plötzlich ein Gedanke. »Warst du bei ihrem Baumhaus?«
»Bei welchem Baumhaus?«
»Das ich mit ihr gebaut habe, als sie vier war.«

E
in heißer, langer Sommer. Sie hatten damals noch in London gelebt, den Juli und August ausnahmsweise nicht auf Skye, sondern in Ferndale verbracht. Kim hatte gerade eine Phase durchlebt, in der sie sich besonders stark an ihren Vater klammerte, und Frederic hatte sich viel Zeit für sie genommen. Er war mit ihr zum Baden gefahren und durch die Wälder gestreunt, hatte mit ihr Tiere beobachtet und Blumen gesammelt. Und ein Baumhaus gebaut. Ein richtig tolles Baumhaus mit einer Leiter, die man nach oben ziehen konnte, und mit einer Bank zum Sitzen und sogar einem wackeligen Tisch darin.
»Aber da ist sie doch ewig nicht mehr gewesen«, sagte Virginia.
»Trotzdem erinnert sie sich. Und es war eine besonders glückliche Zeit für uns. Möglich, dass es sie deshalb dorthin zieht.«

I
hr Familienleben war in jenem Sommer von großer Harmonie erfüllt gewesen. Manchen Nachmittag hatten sie alle zusammen in dem Baumhaus verbracht, obwohl Virginia immer gefürchtet hatte, es werde unter ihnen zusammenbrechen. Kim hatte gespielt, dass sie ihre Eltern zum Tee einlud, hatte in Plastiktassen aus ihrer Puppenküche Wasser serviert und kleine Stückchen Sandkuchen auf winzigen Tellern.
Sie hatten viel Spaß gehabt. Das Baumhaus mochte für alles stehen, was Kim im Augenblick zu verlieren fürchtete.
»Findest du die Stelle noch?«, fragte Frederic.
»Ja. Natürlich.«
»Pass auf, du schaust dort nach. Wenn sie da auch nicht ist, verständigst du sofort die Polizei. Und rufst mich an. Ich werde irgendeinen Weg finden, heute Nacht noch nach Ferndale zu kommen.«
»In Ordnung.« Er konnte ihrer Stimme anhören, wie verzagt sie war. Die Angst um Kim schnürte ihr buchstäblich den Hals zu.
»Ich warte hier neben dem Apparat«, sagte er und legte den Hörer auf.
Er glaubte nicht, dass Kim entführt worden war. Nicht aus dem Haus der Walkers. Sie war weggelaufen, protestierte auf die einzige Art, die ihr zur Verfügung stand, gegen das drohende Auseinanderbrechen ihres Weltgefüges.
A
ber auch das war schlimm genug. Er hatte vorgehabt, die nächste Zeit in London zu bleiben, abzuwarten, dass Virginia den nächsten Schritt auf ihn zu tat. Sie war aus ihrer Beziehung davongelaufen, sollte sie sich nun etwas überlegen, wie man mit dem Scherbenhaufen umgehen konnte. Nun wurde ihm klar, wie kindisch seine Einstellung war und dass er sie möglichst schnell aufgeben sollte. Denn bei der ganzen Geschichte ging es nicht bloß um ihn und Virginia, ihrer beider Gefühle füreinander, die Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte, und um das, was er beigetragen hatte, es so weit kommen zu lassen. In allererster Linie ging es um Kim. Ihr Wohl mussten sie im Auge haben, dann erst konnten sie an sich selbst denken.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.03.2007