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Die Art des Denkens befähigt

Prorektor Prof. Gerhard Sagerer über die universitäre Ausbildung

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Die deutschen Hochschulen sehen sich mit neuen Anforderungen konfrontiert: Effizienz und Wirtschaftlichkeit sind die neuen Normen. Dabei waren Universitäten und Fachhochschulen in den vergangenen Jahrzehnten durchaus effizient: Denn trotz chronischer Unterfinanzierung haben sie jede Menge Absolventen »produziert«.

Nun wird von ihnen verstärkt ökonomisches Denken gefordert. Marktmechanismen sollen greifen, Nützlichkeit und Praxisrelevanz scheinen oberstes Gebot zu sein. Manch einer - wie der frühere Kulturstaatssekretär und heutige Ordinarius in München Julian Nida-Rümelin - sieht die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr. Andere fürchten zudem als Folge der Umstellung auf die konsekutiven Bachelor- und Masterstudiengänge eine Verschulung. Prof. Dr. Gerhard Sagerer, Informatiker und Prorektor für Lehre und Studium, sieht diese Gefahren nicht. Er plädiert für Offenheit und Mut zum Wandel.
Natürlich soll eine Hochschule für den Arbeitsmarkt ausbilden. Dass aber die Wirtschaft in die Universitäten hineinregiere, fürchtet Sagerer nicht. »Nur der Staat als Abnehmer der Absolventen greift ein - ob es um die Lehrer- oder die Juristenausbildung geht«, schmunzelt er. Ebenso propagiert die Politik den Bachelor-Abschluss als ersten qualifizierenden Abschluss - erwartet von den Lehrern von morgen aber den draufgesattelten »Master«.
»Die Wirtschaft interessiert eher, wie lange sie etwas von einem Absolventen hat. Sie erwartet aber weniger, dass er unmittelbar nach seiner akademischen Ausbildung einsetzbar ist.« Dafür bietet sie schließlich Trainee-Programme an.
»Unser Ziel ist eine grundlagenorientierte Ausbildung, die Befähigung von Leuten«, sagt Sagerer. Da müssten, betont der Wissenschaftler mit dem praxisorientierten und »handfesten« Studium, die Geisteswissenschaftler nicht im Nachteil sein. »Es geht um die Kenntnisse und die Art des Denkens, um die Fähigkeit, sich schnell einzuarbeiten.« So »glattgezogen« wie gemeinhin vermutet, seien die Berufsfelder ohnehin nicht: Auch in Sagerers Labor, in dem es um Roboterforschung geht, sind nicht nur Ingenieure, Informatiker oder Physiker beschäftigt: Auch eine Soziologin und eine Psychologin mischen mit. »Denn es geht um Fragestellungen, die nicht mehr rein technisch zu beantworten sind.«
In der Umstellung auf die internationalen Abschlüsse Bachelor und Master sieht der Prorektor eine Chance. »Sie bedeutet zum einen eine Normierung, zum anderen aber auch eine größere Individualisierung.« Im ersten Studium sollen die Grundlagen gelegt, im Masterstudium soll zugespitzt oder gar das Fach gewechselt werden.
Als problematisch erweist sich derzeit die Anwesenheitspflicht bei vielen Veranstaltungen. Es sind nicht mehr Studierende an der Uni eingeschrieben als in den Vorjahren, dennoch sind die Hörsäle und Seminarräume nun überfüllt. Die gewollte noch größere Akademisierung der Gesellschaft - derzeit studieren in Deutschland 34 Prozent eines Altersjahrganges, die Quoten vergleichbarer Staaten liegen bei über 50 Prozent - wird den Effekt noch verstärken. Es fehlt an Räumen und Lehrenden. Und an Geld für beides.
»Eine Hochschule wie Stanford, die etwa mit Bielefeld zu vergleichen ist, hat einen Etat von jährlich zwei Milliarden Dollar. Wir haben 180 Millionen Euro.« Da scheint das deutsche System seine Effizienz zu beweisen.
Deutlich wird das Ungleichgewicht auch beim Blick auf die Betreuungsrelationen: An den US-amerikanischen Eliteuniversitäten liegt es bei 1 : 10, in Deutschland zwischen 1: 30 und 1 : 200. Auch die Lehrverpflichtungen sind höher: »Der internationale Standard liegt bei der Hälfte«, sagt Sagerer. Auch die größere Zahl von Examensarbeiten, die zu betreuen sind, wirkt sich aus auf die Zeit, die dem einzelnen Studenten gewidmet wird.
Entlastung erhoffen sich die Hochschulen durch die Studienbeiträge, die zugleich die Stellung der Studenten stärken: Als zahlende Kunden können sie Leistungen einfordern. »Lange Zeit gab es doch fast so etwas wie ein stillschweigendes Übereinkommen, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen«, meint Sagerer. Dabei ist die Ausbildung - wie die Forschung - eine wichtige Säule der Universitäten. Und anders als in früheren Zeiten, als die Hochschulen ausgebildet und sich nicht darum geschert haben, ob ihre Absolventen einen Job bekamen, werden die jungen Leute heute intensiver betreut und vorbereitet.
Trotzdem ist Sagerer nach wie vor davon überzeugt, dass die grundlagenorientierte Ausbildung die beste ist: »Theorie ist noch immer die beste Praxis: Die Vorlesungen, die ich in den 70er Jahren gehört habe, sind noch immer relevant: weil die Basisprinzipien unverändert sind.«

Artikel vom 23.03.2007