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Ich sehe, Sie planen einen Urlaub«, sagte Baker und wies auf die Prospekte.
Ob er das unpassend fand angesichts der Tragödie, die sie gerade erlitten hatte?
Sie schüttelte den Kopf. »Keinen Urlaub, nein. IchÉ ich möchte England verlassen. Weg von allem, verstehen Sie?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer, von wo man gerade einen Sprecher lautstark die Nachrichten des Tages verlesen hörte.
»Ich verstehe«, sagte Baker, »nach allem, was war, ist ein Neuanfang sicher eine gute Idee.«
»Ich möchte mir eine Gegend aussuchen, die mir gut gefällt. Und dann will ich dort in den Hotels fragen, ob sie jemanden brauchen können. Ich habe schon öfter als Kellnerin gejobbt, ich bin ganz gut darin. Na ja«, sie zuckte mit den Schultern, »wenigstens ist es dort wärmer als hier. Und vielleicht lerne ich ja auch mal jemand Nettes kennen.«
»Ich wünsche es Ihnen von Herzen«, sagte Baker. Er klang aufrichtig.
Dann räusperte er sich. »Miss Alby, weswegen ich kommeÉ Es gibt da eine neue Information, denÉ den mutmaßlichen Mörder der kleinen Rachel Cunningham betreffend.« Kurz berichtete er von Julias Aussage, nach der Rachel mit dem Mann, der sie wahrscheinlich später missbraucht und getötet hatte, verabredet gewesen war.
»Sie hatte ihn einige Wochen zuvor kennen gelernt, fieberte der Begegnung mit ihm entgegen. Leider ist mit ihrer Beschreibung wenig anzufangen. Sie hatte ihrer Freundin lediglich erzählt, dieser Mann sähe ganz toll, wie aus einem Film aus.« Er seufzte. »Das hilft uns nicht wirklich.«
»Nein«, sagte Liz.
»Unsere Überlegung ist nun die, dass jener Mann vielleicht auch schon im Vorfeld an Ihre Tochter Sarah herangetreten ist. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handelt, was wir vorläufig tun. Der Mann scheint eine gewisse Geschicklichkeit zu haben, Kindern Versprechungen zu machen, die diese alle Vorsicht vergessen lassen. Vielleicht hat Ihre Tochter irgendetwas in dieser Art erwähnt - etwas, dem Sie gar keine Bedeutung beimaßen, das aber unter diesen Umständen in einem neuen Licht erscheint? Oder Sie haben sie mit
jemandem zusammen gesehen? Kann das sein?«
Er sah sie hoffnungsvoll an.
Die tappen völlig im Dunkeln, dachte Liz, die haben nicht die kleinste Spur. Die greifen nach jedem Strohhalm.

S
ie überlegte. »Nein. Nein, ich habe niemanden in ihrer Nähe gesehen. Meine Tochter war ja auch erst vier Jahre alt. Sie lief nicht allein in der Gegend herum.«
»Sie könnte mal eine Weile unbeaufsichtigt auf einem SpielplatzÉ«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Liz empört. »Dass ich mein Kind ohne Aufsicht auf irgendwelchen Spielplätzen habe herumsitzen lassen?«
»Miss Alby, das wollte ich keinesfallsÉ«
»Ich weiß schon, das haben Sie ja zur Genüge aus meiner Nachbarschaft erfahren. Dass ich eine schlechte Mutter binÉ war. Dass ich mich nicht genug gekümmert habe. Dass Sarah nicht genug geliebt wurde. Und da denken Sie nunÉ«
»Bitte, Miss Alby!« Baker hob beschwichtigend beide Hände. »Nehmen Sie nicht alles persönlich und versuchen Sie zu verstehen, dass ich hier nur meinen Job mache. Wobei ich wirklich zutiefst daran interessiert bin, den Kerl hinter Gitter zu bringen, der zwei kleine Kinder auf dem Gewissen hat und vielleicht schon hinter dem nächsten Opfer her ist. Ich versuche, Möglichkeiten zu konstruieren, bei denen er auf Ihre Tochter aufmerksam werden und mit ihr in Kontakt treten konnte. Das ist alles.«
Sie atmete tief. Er hatte Recht. Er hatte sie nicht angegriffen. Er versuchte, ein Monster zu fassen. Er konnte nicht ständig darüber nachdenken, wem er mit welcher Frage vielleicht zu nahe trat.
»Sie hat mir nichts erzählt. Daran würde ich mich erinnern. Und ich habe sie nie mit einem Fremden gesehen. VielleichtÉ dass sich im Kindergarten mal jemand an sie herangemacht hat? Aber dort passt man sehr aufÉ« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.«
»Wir werden selbstverständlich mit den Betreuern im Kindergarten auch noch einmal sprechen«, sagte Baker. Er sah müde aus. Liz konnte spüren, dass ihm der Fall wirklich an die Nieren ging.
»Haben Sie Kinder?«, fragte sie.
Er nickte. »Zwei Jungs. Acht und fünf Jahre alt.«
»Jungs sind nicht so gefährdet«, sagte Liz.
»Leider doch«, widersprach Baker, »leider machen sich die Pädophilen auch an Jungen heran. Kein Kind ist vor ihnen sicher.«
»Schaffen Sie oder Ihre Frau es immer, auf Ihre Kinder aufzupassen?«
»Nein. Natürlich nicht. Vor allem der Große ist stundenlang mit seinem Fahrrad unterwegs. Meist zusammen mit Freunden, aber wenn die sich unterwegs trennen, würden wir es nicht mitbekommen. Man kann seine Kinder nicht an die Leine legen. Man kann sie nicht rund um die Uhr bewachen. Man kann nur versuchen, ihnen mit aller Klarheit einzuschärfen, dass sie Fremden nicht vertrauen dürfen. Nie in fremde Autos steigen. Nie mit jemandem mitgehen. Den Eltern sofort Bescheid sagen, wenn jemand sie anspricht, den sie nicht kennen. Aber«, er schüttelte resigniert den Kopf, »all das hatten Mr. und Mrs. Cunningham ihrer kleinen Rachel auch immer wieder erklärt. Sie war ein verständiges, vernünftiges Mädchen. Dennoch fand sie das, was der Fremde ihr anbot, so verlockend, dass sie alles vergaß, was sie gelernt hatte.«
»Scheiße«, sagte Liz.
»Ja«, stimmte Baker zu, »das kann man wohl sagen.« Er überlegte. »Gab es etwas, womit Ihre Tochter zu locken war? Wofür sie bereit gewesen wäre, mit jedem mitzugehen?«
Der schwere Stein sank wieder auf LizÕ Brust. Ihre Augen irrten unwillkürlich zu den Prospekten, die heißes spanisches Land unter strahlend blauem Himmel zeigten. Würde sie es
dort vergessen können? Würde sie es je vergessen können?
»Das Karussell«, sagte sie.
Baker neigte sich vor. »Das Karussell?«
»Ja. Das Karussell, das in New Hunstanton steht. Nur ein paar Schritte von der Bushaltestelle entfernt. Das hatte es ihr angetan.«
»Ich kenne das Karussell. Ist sie öfter damit gefahren?«
Liz nickte. »Eigentlich immer, wenn wir zum Baden nach Hunstanton fuhren. Sie fieberte förmlich darauf hin. NurÉ« Sie stockte.
»Ja?«, fragte Baker behutsam.
»EsÉ es war immer so schwer, sie von dort loszueisen«, sagte Liz leise, »verstehen Sie, sie mochte dann nicht mehr aufhören. Sie schrie und heulte, wenn ich sagte, dass jetzt Schluss ist. Oft wehrte sie sich mit Händen und Füßen dagegen, wenn ich weiterwollte.«
Er lächelte. »So sind sie nun mal. Das ist normal.«
Liz schluckte. »IchÉ ich hasste diese Auftritte. Und deshalbÉ«
»Ja?«
»An dem Tag, an demÉ es geschah, ließ ich sie gar nicht erst mit dem Karussell fahren. Ich sagte gleich nein. IchÉ ichÉ«
»Was denn?«
Die Tränen würgten sie im Hals. »Ich hatte einfach keine Lust, in der heißen Sonne zu stehen und diesem blöden Karussell zuzusehen«, sagte Liz verzweifelt. »Verstehen Sie, ich war einfach zu faul. Ich hatte keine Lust, mir hinterher ihr Geschrei anzuhören. Ich wollte schnell einen schönen Platz für uns suchen. Mich hinlegen. Meine Ruhe haben. IchÉ« Sie konnte nicht weitersprechen. Sie wäre sonst in Tränen ausgebrochen.
»Aber das ist doch verständlich«, sagte Superintendent Baker mit ruhiger Stimme. Er wirkte überzeugend. Voll Dankbarkeit registrierte Liz, dass er sie wohl nicht nur zu trösten versuchte, sondern dass er wirklich meinte, was er sagte.
»Machen Sie sich nicht so verrückt«, bat er. »Jeder Vater, jede Mutter hat den Kindern schon Wünsche abgeschlagen. Und nur allzu häufig aus sogenannten egoistischen Gründen. Weil man gerade keine Lust hatte. Weil einem alles zu viel wurde. Weil man mit seinen Gedanken woanders war. Weil irgendetwas anderes wichtiger oder dringender war. Das ist doch in Ordnung. Wir werden doch nicht Eltern und geben damit gleichzeitig alles an der Garderobe ab, was uns zu ganz normalen Menschen macht. Unsere Bequemlichkeit, unseren Eigennutz, unsere kleinlichen Bedürfnisse. Unsere Unzulänglichkeit eben. Die bleibt uns. Das ist normal.«

S
ie atmete tief. Sie war nicht wirklich getröstet, aber es war, als lege sich ein erster feiner Balsamfilm über ihre wunde Seele. Sie konnte weitersprechen.
»Sie war furchtbar enttäuscht. Sie weinte heftig, stemmte die Füße in den Boden, wollte nicht an dem Karussell vorbeigehen. IchÉ zerrte sie vorwärts. Ich war so wütend auf sie! Wütend, dassÉ ich sie hatte mitnehmen müssen. Wütend, dass sieÉ«
»Dass sieÉ?«
Liz schluckte. »Dass sie überhaupt da war«, sagte sie fast tonlos.
Baker schwieg. Ganz kurz hatte Liz den Eindruck, dass er ihre Hand nehmen wollte, aber er tat es dann doch nicht. Sie saßen beieinander, aus dem Nebenzimmer dröhnte der Fernseher, der kleine Wecker auf LizÕ Nachttisch tickte. Die Prospekte leuchteten in schrillem Blau und Gelb, plötzlich unpassend und aufdringlich. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.03.2007