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Sie hatte sie inzwischen so oft in die Hand genommen und angesehen, dass eine von ihnen bereits an einer Ecke eingeknickt war. Sie versuchte die Delle zu glätten. Wie schön, ach, wie schön wäre es, wenn sie sie bald beschriften und in ihrer Klasse verteilen könnte!
»Janie!« Von draußen vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. »Erster Schultag! Du musst aufstehen!«
»Ich bin schon wach, Mum!«, rief Janie zurück.
Doris Brown öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. »Die Zeit des Trödelns ist vorbei! Beeil dich! Das Bad ist frei!«
»Okay!« Janie versuchte, die Karten unauffällig in die Schublade zurückzuschieben, und erregte damit erst recht den Argwohn ihrer Mutter.
»Was hast du denn da?« Doris war mit zwei Schritten neben ihr und nahm ihr die Karten aus der Hand. Überrascht betrachtete sie die Inschrift.
»Ich dachte eigentlich«, sagte sie dann, »dass ich mich klar ausgedrückt hätte? Es wird keine Party geben!«
»Ich weiß. AberÉ«
»Das Geld hättest du dir sparen können.« Doris gab ihrer Tochter die Karten zurück. »Du musst nicht glauben, dass ich meine Meinung noch ändern werde!«
Wenn Janie gelernt hatte, etwas nicht zu glauben, dann dies. Doris war noch nie von einer einmal gefassten Entscheidung abgewichen.
»Ich habeÉ«, begann sie und hielt dann inneÉ einen ganz netten Mann kennengelernt, hatte sie gerade sagen wollen. Aber sie war nicht sicher, ob das klug wäre. Vielleicht wurde Mum wütend und verbot ihr von vorneherein den Umgang mit ihrem Bekannten. Eigentlich aber war es eine Gelegenheit, Mum in ihre Pläne einzuweihen.
Mum, mach dir keine Gedanken wegen der Party, hätte sie gern gesagt, du musst dich um gar nichts kümmern! Stell dir vor, ich kenne jemanden, der will das alles für mich machen. Er hat ein schönes Haus mit einem großen Garten, in den ich so viele Kinder einladen kann, wie ich nur will. Bei schlechtem Wetter können wir in seinem Keller feiern. Er hat schon viele Kindergeburtstage veranstaltet. Das Schlimme ist nur, ich finde ihn nicht mehr. Wir haben einen Treffpunkt ausgemacht, an dem wir uns an dem Samstag treffen wollten, an dem du krank wurdest und ich daheim bleiben musste. Er sagt, er kommt jeden Montag dorthin, aber ich habe ihn nicht mehr dort gesehen. Heute will ich wieder versuchen, ihn zu treffen. Vielleicht könntest du mir helfen. Vielleicht hast du eine Idee, was ich machen könnte, um ihn zu finden?
»Ja?«, fragte Doris. »Du hastÉ?«
»Ich habeÉ« Janie schloss die Augen. Sie hätte sich ihrer Mutter so gern anvertraut. Das Schlimme war nur, dass Doris Brown so unberechenbar war. Es konnte entsetzlich schief gehen, wenn man sich ihr öffnete.
»Nichts«, sagte sie, »ich wollte eigentlich gar nichts sagen.«
Doris schüttelte den Kopf. »Manchmal kommst du mir ganz schön wirr vor. Also, los jetzt. Beeil dich. Du musst nicht gleich am ersten Tag zu spät zur Schule kommen!«


2
Wann kommt Mummie wieder?«, fragte Kim. Sie war quengelig an diesem Morgen, und ihre Augen glänzten ein wenig. Grace, die sich nur krächzend verständigen konnte und vor Kopfschmerzen meinte, jeden Moment rasend zu werden, legte dem Kind besorgt die Hand auf die Stirn.
»Fieber hast du nicht«, stellte sie fest, »ich fürchte ja, du wirst dich bei mir anstecken!«
»Ich mag nicht zur Schule gehen«, maulte Kim.
»Aber da bist du doch immer gern hingegangen«, meinte Grace. »Denk nur an all die vielen netten Kinder, die du wiedersiehst! Die hast du doch sicher schon vermisst!«
»Nein«, sagte Kim störrisch. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Sie war müde. Sie mochte nicht in die Schule gehen, wo sie wieder stundenlang still sitzen und aufpassen musste. Sie vermisste ihre Mutter. Wieso war sie am ersten Schultag nicht da?
Grace nahm sich ein Taschentuch und schneuzte sich die Nase. Ihre Glieder schmerzten, und sie konnte kaum mehr schlucken. Sie hatte gehofft, nur eine leichte Erkältung zu haben, die sie mit viel Vitaminen und einem Kamilledampfbad schnell wieder wegbekommen würde, aber dies nun schien sich zu einer richtigen Grippe auszuwachsen. Es war ihr hundeelend. Hätte sie nicht die Verantwortung für Kim gehabt, sie wäre an diesem Tag gar nicht aufgestanden. Zu allem Überfluss hatte Jack schon ganz früh am Morgen zu einer zweitägigen Fahrt hinunter nach Plymouth aufbrechen müssen. Er fuhr einen Transport mit Styroporplatten, für den er schon vor Wochen zugesagt hatte. Beim Anblick seiner Frau allerdings hatte er überlegt, aus dem Geschäft auszusteigen. Grace hatte jedoch heftig widersprochen.
»Auf keinen Fall! Mr. Trickle ist immer so nett und verschafft dir diese Jobs. So schnell kann er niemanden als Ersatz finden. Du darfst ihn nicht enttäuschen!«
»Dir geht es aber ganz schön schlecht!« Jack war wütend geworden. »Es ist rücksichtslos, was Mrs. Quentin sich da leistet! Ich meine, Mr. Quentin kann nichts dafür, dass er nach London musste, dort ist sein Beruf, und da kann er nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Aber Mrs. Quentins Aufgaben sind nun einmal hier. Wie kann eine Mutter sich so benehmen? Verschwindet von heute auf morgen, und andere Menschen können zusehen, dass es ihrem Kind gut geht!«
»Sie wusste ja nicht, dass ich gerade jetzt krank werde«, beschwichtigte Grace, »und ich hatte ihr vorher gesagt, dass ich gern für Kim sorge und dass sie bei uns bleiben kann, so lange sie will.«
»Trotzdem ist das keine Art. Abgesehen von den Sorgen, die sie uns allen bereitet hat. Ich muss sagen, ich findeÉ«
»Psst! Ich will nicht, dass Kim dich hört!«

J
ack hatte weiter vor sich hin gebrummt, aber am Ende hatte er sich überreden lassen, die Fahrt nach Plymouth wie geplant durchzuführen. Grace hatte ihm versprochen, sich sofort wieder ins Bett zu legen, wenn sie Kim zur Schule gebracht hatte. Etwas anderes wäre ihr auch gar nicht übrig geblieben. Sie glühte vor Fieber, und jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte.
Musste das jetzt sein?, dachte sie müde.
Sie hatte Jack, den Choleriker, nicht noch weiter auf die Palme treiben wollen und daher abgewiegelt, als er über Virginia Quentin zu wettern begann, aber in Wahrheit war sie auch wütend. Ganz schön wütend. Sie wusste nämlich mehr als ihr Mann. Sie hatte Kim ein wenig ausgefragt und herausbekommen, dass Virginia tagelang drüben mit einem fremden Mann unter einem Dach gelebt hatte. Während ihr Ehemann sich in London aufhielt. Und jetzt waren beide verschwunden.
Grace konnte eins und eins zusammenzählen. Der arme Mr. Quentin! Betrogen und hintergangen auf seinem eigenen Grund und Boden. Und nun auch noch im Stich gelassen, zusammen mit dem kleinen Kind.
Das hätte ich nicht von ihr gedacht, überlegte sie, ich glaube, ich habe sie immer ganz falsch eingeschätzt. Diese ruhige, sanfte Frau. Aber stille Wasser sind bekanntlich tief.
»Wann kommt denn nun meine Mummie zurück?«, bohrte Kim.

G
race seufzte. »Das weiß ich nicht genau.« Sie nieste und putzte sich zum hundertsten Mal an diesem Morgen die Nase. Ihre Augen brannten und tränten.
»Bist du denn nicht mehr gern bei mir?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Kim seufzte. »Doch. AberÉ« Sie drehte ihre Tasse herum.
»Was?«, fragte Grace und nieste schon wieder.
»Ich dachte, zum Schulanfang ist sie da«, erklärte Kim. Und nieste nun auch.
Schöne Bescherung, dachte Grace erschöpft.
Virginia Quentin war die Frau von Jacks Arbeitgeber, aber dennoch würde sie ihr ein paar unangenehme Wahrheiten mitten in ihr hübsches Gesicht sagen, sobald sie sie wiedersah.
Sollte das jemals der Fall sein. Grace war sich da keineswegs sicher. Aber das brauchte Kim zu diesem Zeitpunkt nicht zu erfahren. Das Kind musste nun erst einmal über die Hürde des ersten Schultags kommen. Dann konnte man weitersehen.

3
Der Mann stellte sich als Superintendent Baker vor und sagte, er leite eine Sonderkommission, die sich mit der Aufklärung der Verbrechen an Sarah Alby und Rachel Cunningham beschäftige. Liz saß in ihrem Zimmer und hatte einen Berg von Prospekten über spanische Städte und Dörfer um sich herum ausgebreitet. Sie mochte mit Baker nicht ins Wohnzimmer gehen, wo der Fernseher wie üblich dröhnte und es außerdem ziemlich durchdringend nach einer Mischung aus Schnaps und Schweiß stank. Betsy Alby verkam mit jedem Tag mehr, in Riesenschritten, wie es Liz schien. Oder war das auch vorher so gewesen, und sie hatte es bloß nicht richtig gemerkt? Sie war empfindlicher geworden seit Sarahs Tod, hatte feinere Antennen bekommen. Inzwischen meinte sie, ihre Mutter kaum noch eine Woche länger ertragen zu können.
Sie bat den Superintendent, auf ihrer Schlafcouch Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich auf einen alten Küchenschemel, den sie mit einem selbst genähten, farbenfrohen Bezug aufgepeppt hatte. Sie dachte in diesem Moment, dass sie keinesfalls für alle Zeiten Besucher auf diese Art empfangen wollte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.03.2007