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Kim ist erst sieben. Und wenn Grace tatsächlich krank istÉ«
»Dann ist immer noch ihr Mann da.«
»Aber der ist vielleicht überfordert. Er muss sich um seine
Frau kümmern undÉ«
»Éund Kim morgens zur Schule bringen und irgendwann am Nachmittag wieder abholen. Lieber Gott, das ist doch zu schaffen! Grace liegt bestimmt nicht im Sterben. Vielleicht hat sie einen Schnupfen, aber den wird sie sicher überleben.«
»Nathan, ich habe ein Kind. Ich kann nicht einfachÉ«
»Dass du ein Kind hast, wusstest du auch am Donnerstag, als du dich zu dieser Flucht entschlossen hast.«
Plötzlich ebenfalls wütend fuhr sie ihn an: »Was soll ich denn tun? Du hast es leichter. Du hast viel weniger zurückgelassen!«
»Oh - eine kranke Ehefrau immerhin auch.«
»Die ist dir doch so egal wieÉ wieÉ« Sie suchte nach einem Vergleich.
Nathan lächelte, aber es war kein warmes Lächeln wie zuvor. Es war zynisch und kühl. »Wie was?«
»Wie der berühmte Sack Reis, der in China umfällt! Erzähl mir doch nicht, dass du dich in Gewissensbissen windest, seit du das erste Mal mit mir geschlafen hast!«
»Keineswegs. Aber so einfach, wie du es darstellst, ist es auch wieder nicht. Ich mache mir durchaus Gedanken um Li-via, aber ich finde nicht, dass das ein Thema ist, mit dem ich dich behelligen sollte. Ich habe meine Lebensumstände und meine Vergangenheit, du ebenso. Jeder von uns muss selbst herausfinden, wie er damit umgeht.«
»Ich will dich nicht mit Frederic behelligen, aberÉ«

G
enau das tust du. Wegen Frederic dürfen wir diese Hütte hier praktisch nicht verlassen. Wenn Frederic ein Telegramm schickt, möchtest du im nächsten Moment abreisen. Frederic hier, Frederic da. Der arme Frederic, dem du so wehtust! Der arme Frederic, auf den wir Rücksicht nehmen müssen! Du wirst kaum behaupten können, dass ich dich auf ähnliche Weise bisher mit Livia und ihren zweifellos ebenfalls verletzten Gefühlen behelligt habe!«
Sie merkte, dass sie Kopfweh bekam. Das Gespräch entglitt ihr, auch deshalb, weil Nathan es so wollte. Sie hatte über Frederic gesprochen, aber nur weil Nathan sie wegen des Pubbesuchs unter Druck gesetzt hatte. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, darauf hinzuweisen, weil er es widerlegen würde. Er war wütend, und er wollte nicht fair sein.
»Es geht doch in erster Linie um Kim«, sagte sie müde.
»Irrtum«, widersprach Nathan, »es ist nur so, dass Kim von nun an gnadenlos instrumentalisiert werden wird. Dieses Telegramm«, er wies auf den Umschlag in Virginias Händen, »ist eine Kriegserklärung. Frederic wird mit harten Bandagen kämpfen, das macht er dir hier deutlich.«

S
ie strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es entsetzte sie zu merken, wie sehr sie sich bereits davor fürchtete, ihn zu verlieren.
»Ich muss trotzdem zurück«, sagte sie.
»Du musst dich entscheiden.«
»Zwischen meinem Kind und dir?«
»Zwischen deinem Mann und mir. Wenn du jetzt zurückfährst, beugst du dich seinen Regieanweisungen. Dann bist du alles andere als eine in der Ablösung begriffene Frau.«
»Ich bin auch Mutter. Das ist eine Verpflichtung, aus der ich mich weder lösen kann noch will.«
»Ohne dieses Telegramm hättest du aber kaum jetzt daran gedacht.«
»Ich hätte nicht gewusst, dass Grace offenbar ernsthaft krank ist. Und dass Frederic schon wieder nach London gefahren ist. Natürlich ist mir klar, dass er damit ganz bewusst Druck auf mich ausübt, aber ich kann mich nicht auf einen Machtkampf mit ihm einlassen, der letztlich auf Kosten eines siebenjährigen Mädchens geführt wird. Nathan, das musst du doch verstehen!«
Er erwiderte nichts, und plötzlich fühlte sich Virginia wie in einem Schraubstock gefangen: Frederic machte Druck, aber Nathan tat das auf mindestens ebenso rücksichtslose Weise, und er schien sich wenig Gedanken zu machen, wie sie dabei empfand. Er zeigte ein Gesicht, das sie an ihm nicht mochte. Sie flüchtete sich in den Gegenangriff.
»Tu doch nicht so, als ob bei dir alles in Ordnung wäre! Du urteilst über mich und mein Verhalten, als seist du selbst völlig unangreifbar. Du hast mir schließlich keineswegs die ganze Wahrheit über dich gesagt!«

F
ür einen Moment wirkte er aufrichtig verblüfft. »Nein?«
»Nein. Was ist zum Beispiel mit den vielen Bestsellern, die du schon geschrieben hast? Und mit denen du in Deutschland zu einem bekannten und beliebten Autor geworden bist?«
Er trat einen Schritt zurück. Seine Augen wurden schmal. »Oh - man hat ein paar Erkundigungen eingezogen?«
»Ich bin nicht der Mensch, der anderen hinterherspioniert. Livia hat es Frederic erzählt.«
»Aha. Und der hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als diese Neuigkeit sofort an die treulose Gattin weiterzugeben!«
»Hättest du das anders gemacht an seiner Stelle?«
»Ich vermute, Livia hat nicht alles gesagt.«
»Keine Ahnung. Bist du nun ein erfolgreicher Schriftsteller oder nicht?«
»Wo sind die Untiefen in deinem Leben?«
»Und wo in deinem?«
Sie starrten einander an. Endlich sagte Nathan mit weicherer Stimme: »Wir sollten einander alles erzählen. Eine andere Chance haben wir nicht.«

D
ankbar registrierte Virginia, dass die unerträgliche Spannung der letzten Minuten verschwunden war. Sie konnte wieder die Zärtlichkeit spüren, die Nathan für sie hegte, und sie fand ihre eigenen Gefühle für ihn wieder. Aber der Tag hatte sein Leuchten verloren. Sie hatten zum ersten Mal gestritten, sie hatte sich zum ersten Mal in seiner Gegenwart nicht mehr wohl gefühlt. Er hatte keinerlei Verständnis für ihre Situation gezeigt, und er hatte Livias Behauptung, was seine beruflichen Umstände anging, nicht abgestritten. Was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass alles stimmte. Und auf einmal fragte sie sich auch, weshalb er gerade an diesem Abend, gerade im Moment ihres Nachhausekommens, auf einen Restaurantbesuch gedrängt und sie damit gestresst und unglücklich gemacht hatte. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass irgendetwas seine Laune schon vorher getrübt hatte, und im Grunde konnte es nur das Telegramm von Frederic gewesen sein. Das hieß aber, er hatte es, entgegen seiner Beteuerung, doch sogleich gelesen. Da der Umschlag nicht zugeklebt gewesen war, hatte er dies ohne Schwierigkeiten tun können. Er hatte sich geärgert und dann alles unternommen, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie in eine Lage zu manövrieren, in der sie am Ende mit dem Rücken zur Wand stand und gezwungen war, über Frederics Gefühle zu reden und ihn in Schutz zu nehmen. Was Nathan wiederum die Gelegenheit gegeben hatte, sie der Loyalität gegenüber ihrem Ehemann wegen anzugreifen. Als Erkenntnis blieb, dass seine unwahren Behauptungen über seinen Beruf zusammen mit der Möglichkeit, dass er das Telegramm gelesen hatte, nicht dazu angetan waren, das Vertrauen zwischen ihm und Virginia zu festigen. Sie musste daran denken, wie er sich ihre Adresse in Norfolk aus den Schubladen gesucht hatte, und ihr fiel auch der Morgen ein, an dem er mit ihrem alten Foto in der Hand aufgekreuzt war.

E
r ist einfach anders als ich, dachte sie, offenbar empfindet er in diesen Dingen anders. Das heißt nicht, dass er ein unehrlicher, betrügerischer Mensch ist.
Er lächelte. Es war das alte Lächeln, das sie stets mit dem Gefühl von Wärme erfüllte.
»Wir fahren morgen nach KingÕs Lynn zurück«, sagte er, »wenn du das möchtest.«
Sie holte tief Luft. »Ich werde dir alles über mich erzählen. Alles.«
Er nickte. »Und ich werde dir alles über mich erzählen.«
»Muss ich Angst haben?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Und ich?«
»Ja«, sagte sie und brach in Tränen aus.


Montag, 4. September1
N
och zwei Wochen bis zu meinem Geburtstag, dachte Janie bedrückt.
Genau genommen war es sogar schon wieder ein Tag weniger. Am übernächsten Sonntag war es so weit. Und sie wusste immer noch nicht genau, wie das Ereignis gefeiert werden würde.
Heute war Montag, und somit bestand wieder die Chance, den netten Mann in dem Schreibwarengeschäft zu treffen. Obwohl es ja wirklich so aussah, als habe er ihre Verabredung vergessen. Oder er war ernsthaft sauer, weil sie damals nicht gekommen war. Sie hätte ihm so gern erklärt, dass es nicht ihre Schuld gewesen war, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, aber womöglich würde er ihr gar keine Gelegenheit dazu geben.

J
anie seufzte. Sie streifte die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden. Sie tappte zu ihrem Schreibtisch, zog die Schublade auf und kramte ganz vorsichtig die fünf Einladungskarten heraus, die sie noch immer weit hinten versteckt hielt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.03.2007