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Der Wind wehte ihr ins Gesicht, als sie umkehrte. Zwar hatte der Sturm deutlich nachgelassen, aber dennoch musste sie sich sehr anstrengen, um vorwärts zu kommen. Die Luft war kalt, sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch.
Skye würde sie auch verlieren. Egal. Sie und Nathan würden sich ein neues Skye suchen. Solange sie zusammen waren, war alles in Ordnung.
Warum nur hatte sie sich so tot gefühlt an Frederics Seite? Weil sie ihn nicht geliebt hatte? Weil sie sich von seiner Zuneigung, seiner aufrichtigen Liebe, manchmal wie erschlagen gefühlt hatte? Weil sie oft wie erstickt gewesen war von ihrem Schuldgefühl ihm gegenüber? Vielleicht hatte sie immer gewusst, dass sie ihm eines Tages davonlaufen würde. Vielleicht hatte sie immer gewusst, dass er nicht der Mann war, mit dem sie ihr Leben verbringen konnte. Vielleicht hatte sie wie tot sein müssen, um diese Gedanken nicht an die Oberfläche gelangen zu lassen. Vielleicht hatte sie sich hinter den hohen Bäumen von Ferndale House einfach nur vor der Wahrheit versteckt.
Und nie, nicht in ihren kühnsten Gedanken, hatte sie die Möglichkeit erwogen, ihm alles über sich, über ihr Leben, über ihre Schuld zu erzählen. Er wusste, dass sie einige Jahre mit ihrem Cousin zusammen in einer eheähnlichen Beziehung gelebt hatte, er wusste von dem tragischen Tod des kleinen Tommi und von Michaels Verschwinden bei Nacht und Nebel, von seinem Untertauchen in die totale Versenkung. Andeutungsweise hatte sie ihm sogar einmal von ihren Gefühlen danach berichtet - von ihren quälenden Schuldgefühlen, weil sie Erleichterung verspürt hatte, als Michael nicht mehr da war, und weil sie nie nach ihm gesucht, ihn ganz und gar seinem ungewissen Schicksal überlassen hatte. Aber mehr wusste er nicht. Er kannte nicht ihre wilden Londoner Jahre, ihre vielen Affären, ihre Drogengeschichten. Er wusste nichts über Andrew. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dies alles ihm gegenüber zu erwähnen. Vielleicht hatte es einfach an seiner Art gelegen. Er war so konservativ, so angepasst an Recht und Ordnung, hielt sich immer an die Regeln, nach denen man Dinge tun durfte oder nicht. Was er von der Vergangenheit seiner Frau wusste, war sorgfältig gesiebt und gefiltert. Ein blasses Bild, schemenhaft fast, voller Lücken, die mit Nebel gefüllt waren. Und offenbar hatte ihn das nie gestört. Er kannte die Frau nicht, mit der er verheiratet war, mit der er ein Kind hatte, mit der er sein Leben bis zum Ende hatte leben wollen. Er kannte sie nicht, weil er sich mit den wenigen Brocken zufrieden gab, die sie ihm hinwarf.

U
nd sie würde ihm auch nicht erzählen, was da noch gewesen war. Zwischen ihr und Michael. Nicht einmal Nathan hatte sie bislang davon berichtet. Aber sie wusste, dass sie es tun würde. Nathan würde alles über sie erfahren.
Weil Nathan nicht feige ist, dachte sie, nicht zu feige, auch die hässlichen Farben im Bild einer Frau zu ertragen.
Der Himmel hatte die herrlichen Pastellfarben angenommen, die Virginia so liebte. Sie blieb stehen, schaute über das Wasser. Am Horizont stiegen Streifen in blassem Rosa, zartem Lila, sanftem Rot auf, verschmolzen mit dem Blau des Himmels, nahmen ihm die Leuchtkraft. Die Sonne war zu einem glühend orangefarbenen Ball geworden, der seine Strahlen bei sich behielt und bald langsam ins Meer sinken würde. Die Luft wurde kälter, die Schreie der Möwen lauter.

S
ie würde Kim den Vater nehmen. Sie würde die sichere Welt, in der ihr Kind bislang aufgewachsen war, einstürzen lassen. Zweifellos lud sie eine große Schuld auf sich, hatte sie bereits auf sich geladen, als sie ausbrach, nach Skye fuhr, fast zwei Tage lang durch ganz England raste, um sich so weit von ihrem Leben zu entfernen, wie es nur möglich war. Als sie sich in Nathans Arme stürzte. Sie betrog nicht nur Frederic, sie betrog auch Kim. Vielleicht würde sie irgendwann jemand deswegen zur Rechenschaft ziehen. Vielleicht musste sie für ihre Schuld bezahlen. Sie konnte dennoch den Weg nicht verlassen, den sie eingeschlagen hatte.
Schon von weitem sah sie den Rauch aus dem Schornstein des Cottage steigen, sah den Lichtschein hinter den Fenstern, der sie warm und freundlich in der immer schneller einfallenden Dämmerung willkommen hieß. Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte zu ihm.

E
r kniete im Wohnzimmer neben dem Kamin, schichtete die Holzscheite, die er gehackt hatte, an der Wand entlang auf. Er schien sehr auf seine Arbeit konzentriert zu sein.
»Nathan!«, sagte Virginia.
Er blickte hoch.
»Virginia!« Er stand auf, trat auf sie zu. Er lächelte. »Du siehst hübsch aus. Ich mag es, wenn du so rote Wangen hast und deine Haare zerzaust sind.«
Etwas verlegen über das Kompliment fuhr sie sich mit der Hand über ihre wirren Haare. »Es ist ziemlich kalt draußen. Und recht stürmisch.«
»Hm.« Er trat noch dichter an sie heran, beugte sich hinab, vergrub seine Nase an ihrem Hals. »Du riechst wunderbar. Nach Meer. Nach Wind. Nach allem, was ich liebe.«
Sie schaute ihn an. Sie wusste, dass ihre Augen idiotischerweise verklärt leuchteten, aber sie konnte es nicht ändern. Er lächelte schon wieder. In seinem Lächeln konnte sie erkennen, dass er um seine Wirkung auf sie genau wusste.
»Irgendwie«, sagte er, »habe ich nicht so große Lust, heute Abend schon wieder eine Konserve aufzumachen und in das immer gleiche Kaminfeuer zu blicken. Wie wäre es, wenn wir in ein Pub gingen? Ich habe riesigen Appetit auf Bohnen, Lammkoteletts und ein dunkles Bier!«
Sie erschrak. »Ich glaube, ich habe hier auch eine Dose Bohnen«, sagte sie hastig und machte schon einen Schritt in Richtung Küche. Nathan hielt sie am Arm fest.
»Darum geht es doch gar nicht. Ich möchte mit dir ausgehen.«
»Das ist kaum die richtige Jahreszeit zum Ausgehen auf Skye. Außerhalb der Saison haben die meisten Pubs hier geschlossen.«
»Also wirklich, Virginia! Als ob die Menschen auf Skye auch nur einen Tag ohne ihre Pubs, ihren Whisky und ihre Musik auskämen! Es haben genügend Kneipen geöffnet. In Portree kenne ich ein paar. Wie wäre es mit dem Portree House? Da gibt es übrigens auch fantastischen Fisch!«
Sie seufzte. Er war doch sonst so feinfühlig. »Ich finde das einfach keine gute Idee«, meinte sie unglücklich.
Er lächelte nun nicht mehr. »Aha«, sagte er, »ich werde versteckt, nicht wahr? Mit mir kann man an einsamen Stränden entlangspazieren, daheim am Kamin sitzen oder hinter fest verschlossenen Türen stundenlang Sex haben, aber nach draußen soll möglichst nichts dringen. Man würde uns sehen, wenn wir irgendwo essen gehen. Du bist bekannt auf der Insel. Es würde Gerede und Getuschel geben. StimmtĂ•s?«

L
angsam streifte sie ihre Jacke ab, hängte sie über eine Stuhllehne. Ihr Gesicht glühte. »Nathan, es geht doch nicht darum, dass ich dich auf Dauer verstecken will. Oder unsere Beziehung. Im Gegenteil. Aber müssen wir das Frederic antun? Zu diesem Zeitpunkt? Hier auf der Insel? Es ist sein Haus. Er wird immer wieder herkommen. Die Leute wissen, dass ich noch im August hier mit ihm die Ferien verbracht habe. Es ist gerade Anfang September, und schon bin ich mit einem anderen Mann hier. Müssen wir ihn so bloßstellen?«
Er zuckte die Schultern. »Du bist sehr besorgt um ihn.«
»Er hat mir doch nichts getan. Es gibt absolut nichts, was ich ihm vorwerfen könnte. Ich tue ihm schon so sehr weh. Muss ich es noch schlimmer machen, indem ich ihn auf Jahre dem Getuschel der Menschen auf Skye aussetze?«
Er war verärgert, aber sie hatte den Eindruck, dass es ihm nicht wirklich darum ging, unbedingt in einem Restaurant zu essen. Das Ganze war eher eine Machtprobe. Er verlor sie, und das machte ihn wütend.
Besänftigend strich sie über seinen Arm. »He«, sagte sie leise, »lass uns nicht streiten, okay? Lass uns ein Glas Wein trinken und dannÉ«

E
r schüttelte ihre Hand ab. »Auf dem Tisch liegt ein Telegramm für dich«, sagte er mürrisch.
»Ein Telegramm? Von wem?«
»Keine Ahnung. Glaubst du, ich lese Post, die für dich bestimmt ist?«
Sie nahm den braunen Umschlag vom Tisch. Das Kuvert war nicht zugeklebt, die Lasche nur eingesteckt.
»Ach, du lieber Gott«, sagte sie leise, nachdem sie gelesen hatte.
Nathan sah sie fragend an. »Und? Von wem ist es?«
»Von Frederic. Aus London.« Sie las vor: »Bin wieder in London + terminliche Gründe + Kim bei Grace, die krank ist
+ morgen Schulanfang + dein Kind braucht dich + Frederic.«
»Sehr wirkungsvoll«, sagte Nathan, »er benutzt das Kind, um dich aus meinen Armen zu reißen. Ich frage mich nur, was er sich davon verspricht? Auf diese Weise würde ich eine Frau nicht zurückgewinnen wollen.«
»Ich glaube, das denkt er sich so auch nicht. Er musste tatsächlich nach London, Grace ist wahrscheinlich wirklich krank, und es ist auch nicht zu leugnen, dass morgen die Schule beginnt.« Virginia biss sich auf die Lippen. »Ich fürchte, Nathan, ich muss zurück.«
»Er hat dich ganz gut im Griff, muss ich sagen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.03.2007