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Wort zum Sonntag

Heute von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann

Hans-Jürgen Feldmann ist Pfarrer im Ruhestand.

Die Mutter eines vierjährigen Kindes, das beim Winterurlaub durch eine Lawine ums Leben gekommen war, entwickelte schwere Schuldgefühle. Sie fühlte sich für den Todesfall verantwortlich, weil sie es war, die ihr Kind am Unglückstag überredet hatte, mit ihr spazieren zu gehen, obwohl dieses selbst viel lieber in der warmen Unterkunft geblieben wäre. Im Freien hatten sich dann plötzlich Schneemassen gelöst, das Kind erfaßt, zugeschüttet und in den Tod gerissen. Der Mutter hingegen war nichts passiert.
Hätte sie ihrem Kind seinen Willen gelassen, wäre es noch am Leben, so folgerte sie nun, denn das Haus, in dem die Familie ihren Urlaub verbrachte, war von der Lawine verschont geblieben. In der Folgezeit steigerte sie sich immer stärker in ihre vermeintliche Schuld hinein - bis hin zu Selbstmordgedanken. Außerdem verübelte sie ihrem Mann, gerade diesen Urlaub geplant zu haben, und daneben verdächtigte sie das Lawinenkommando, bei seinen Rettungsarbeiten nicht gewissenhaft und ausdauernd genug gewesen zu sein.
Immer wieder geschieht es, daß Kinder verunglücken und daß deren Eltern sich neben allem Schmerz darüber auch noch die Schuld daran geben - zumindest eine gehörige Portion Mitschuld. Manche gehen an diesem Gedanken tatsächlich langsam selbst zugrunde. Das muß freilich nicht sein, aber jeder, der in seinem Leben einmal von einer solchen Katastrophe heimgesucht wird, braucht viel Zeit, um sich zunächst von persönlichen Schuldzuweisungen zu lösen, um dann allmählich auch die Trauer zu überwinden. Die schnellen Erklärungs- und Verallgemeinerungsversuche wohlmeinender Mitmenschen helfen dabei wenig. Sie können die Sache sogar noch verschlimmern.
Zwar trifft es zu, daß das verunglückte Kind auch unter ganz anderen Umständen und in ganz anderer Umgebung hätte umkommen können. Als Todesursache wäre ebenso eine plötzlich auftretende unheilbare Krankheit denkbar gewesen. Aber im vorliegenden Fall vermochte die Mutter daraus keinen Trost zu schöpfen, und das befreit sie auch nicht von dem, was sie sich selber antut und anlastet.
Hilfreich kann am Ende nur eine Erkenntnis sein, die wir nicht gern zugeben und die einen ganz bescheiden und demütig macht: die Einsicht in die eigene Ohnmacht. Menschen können einander nur in sehr begrenztem Maße beschützen und vor Unheil bewahren. Das gilt auch von Eltern im Hinblick auf ihre Kinder. Väter und Mütter sind zwar verantwortlich für sie, solange die Sprößlinge noch unmündig sind. Aber eine letzte Verantwortung vermögen sie eben nicht zu übernehmen und zu tragen. Denn das kann kein Mensch. Damit wäre er grenzenlos überfordert.
Viele Eltern, die ein Neugeborenes in Händen halten, spüren das ganz elementar. Sie sehnen sich daher für ihr Kind nach einem stärkeren Schutz, als Menschen ihn zu geben vermögen. Und wenn sie ihr Kind dann zur Taufe bringen, hat auch dieser Wunsch sie offen oder unbewußt dabei geleitet - der Wunsch, Gott möge ihr Kind in seine gnädige Obhut nehmen und es seinen Engeln anbefehlen.
Allerdings ist die Taufe keine Versicherung gegen die Widrigkeiten des Daseins und keine Garantie gegen dessen Gefahren. Auch getaufte Kinder kommen um, und kein Mensch könnte sagen, warum - ob getauft oder ungetauft - das so ist.
Niemand wüßte den Sinn eines so grausamen Geschehens zu erkennen und zu benennen. Und doch kann es ein starker Trost sein, daß da ein anderer ist, der diesen Sinn kennt, der auch in dem, was Menschen nicht begreifen, gute Gedanken über sie gedacht hat und der auch in ihrem Schmerz bei ihnen ist.

Artikel vom 03.03.2007