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Erste Anlaufstelle im
Rathaus sagt ade

Heidi Thielke geht nach 40 Jahren - für Blinde eingesetzt

Von Sabine Schulze
Theesen (WB). So ganz ohne Rathaus kann sie ja nicht sein. Und weil das alle in der Bielefelder Stadtverwaltung wissen, gab es für Heidi Thielke ein besonderes Abschiedsgeschenk: Ein klitzekleines Stückchen Rathaus, gewonnen bei einer Kernbohrung.

Im September 2007 ist Heidi Thielke 40 Jahre im öffentlichen Dienst. Gestern war der erste Tag ihrer Altersteilzeit - den sie aktiv und beschäftigt wie immer verbracht hat. Jedem Bielefelder, der je seinen Fuß ins Rathaus gesetzt hat, dürfte die 57-Jährige bekannt sein. Denn Heidi Thielke war viele Jahre lang für viele die erste Anlaufstelle: Wer wissen wollte, wer sein Ansprechpartner sei oder wo er ihn finden könnte, wandte sich zuerst an sie. Und bekam zweifellos nicht nur eine kompetente, sondern überaus freundliche Antwort von der Verwaltungsangestellten, die seit fast zehn Jahren völlig erblindet ist.
Ihr Berufsleben hat Heidi Thielke als Telefonistin bei der Kreisverwaltung begonnen. Seitdem fühlt sie sich ihrer Stadt verbunden. »Mein Herz brennt für Bielefeld«, betont sie. Von ihrem Engagement haben viele profitiert: Gerade weil sie blind ist - bereits in der Pubertät trat ihre Augenerkrankung auf und verschlechterte sich im Laufe der Jahrzehnte zunehmend - weiß sie, wie man anderen Menschen mit diesem Handicap den Alltag erleichtern und verschönern kann.
So hat Heidi Thielke das bronzene Stadtmodell auf dem Alten Markt - vor dem Theater - initiiert. Sie hat sich für den »sprechenden Lift« im Rathaus eingesetzt, sich für Blindenführungen in der Kunsthalle stark gemacht und veranstaltet ab und an für Sehende Kaffeestunden in völliger Finsternis - damit sie wissen, wie es sich mit Blindheit lebt, vor allem aber, um auch ihre Sinne zu schärfen.
Regelmäßig lädt sie auch in ihren Blindenduft- und Tastgarten in Theesen ein; am 24. Juni ist es wieder so weit. Der Garten von Heidi Thielke vermittelt eine Vielzahl von Eindrücken - auch denen, die nicht sehen können. Immerhin hat sie mehr als 250 verschiedene Rosensorten. Die einen duften nur schwach, halten sich aber lange in der Vase, andere wiederum verströmen einen intensiven Duft. »Meine Lieblingsfarbe ist apricot. Deshalb trage ich auch gerade einen apricotfarbenen Pullover«, erzählt sie - und genießt die Verwunderung des Sehenden darüber, dass ihr, der Blinden, das wichtig ist.
»Aber ich weiß noch, wie die Farben aussehen. Und ich lebe wahnsinnig intensiv«, erklärt sie. Verheiratet ist die Mutter zweier erwachsener Kinder »mit einem Traum-Mann - und das seit 37 Jahren«. Zu ihren Wünschen für die Zukunft gehören noch einige Städtereisen. Wien möchte sie erleben und den Frühsommer in Paris. »Ich lasse mir dann alles genau erklären und genieße das Flair einer Stadt: die Ruhe oder Hektik, die Gerüche, die Art, wie die Menschen sprechen.«
Vorrang hat aber derzeit die Schwiegermutter, um die sie sich nun verstärkt kümmern will. Ihre Pflegebedürftigkeit war ein Grund, dem Rathaus den Rücken zu kehren und die Kräfte anders einzusetzen: »Man hat an der Rathaus-Information bis zu 1000 Begegnungen am Tag. Das kann auch anstrengen, weil man sofort parat sein und sofort funktionieren muss, wenn man angesprochen wird.« Schließlich sei man auch ein wenig die Visitenkarte der Verwaltung. Aber Heidi Thielke ist überzeugt, den Kontakt nicht zu verlieren. »Ich sehe ja alle in der Stadt wieder.« Die Vokabel »sehen« schlüpft ihr immer wieder über die Lippen. »Ich lebe ja schließlich in der Welt der Sehenden«, lacht sie.

Artikel vom 02.03.2007