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Waltraud Liedtke gibt ostpreußische »Vertällsel« heraus. Foto: Meyer zur Heyde

»Laßt alles zurück
und rettet euer Leben!«

Waltraud Liedtke (83) flieht aus dem Kreis Angerapp

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Am Sonntag, 20.15 Uhr, strahlt die ARD den ersten Teil des Geschichtsepos' »Die Flucht« mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle einer ostpreußischen Gräfin aus. Teil 2 folgt am Montag, 20.15 Uhr. Das WESTFALEN-BLATT hat heutige Bielefelder ihre Erlebnisse erzählen lassen.

Am 22. Oktober 1944, einem Sonntag, erscheinen im Kreis Angerapp Sowjetpanzer. Die Flucht beginnt, aber Dargel, ein NS-Funktionär in Königsberg brüllt Angerapps stellv. Kreisleiter Kaiser an: »Ich erwarte in Kürze Meldung, daß Sie einige [Flüchtende] über den Haufen geschossen haben!« Frauen und Kinder sollten die Häuser verteidigen . . . 30 deutsche Panzer schlagen am 23. Oktober die Russen zurück.
Erika Waltraud Liedtke, geb. Steinke, erblickte 1923 das Licht der Welt.
»Ich bin in Neu Kermuschinen (Kermenau), 18 Kilometer südlich von Angerapp, aufgewachsen, in einem Dorf von vielleicht 50 bis 70 Seelen. Wir wohnten auf einem abgelegenen Bauernhof. Meine beiden älteren Brüder sind im letzten Kriegswinter gefallen bzw. in Gefangenschaft gestorben, meine ältere Schwester lebte nach der Heirat in einem benachbarten Dorf. Zum Besuch der höheren Schule fehlte das Geld, und so absolvierte ich eine ländliche Hauswirtschaftslehre bei meinen Eltern.
Den Sommer 1944 durchlebten wir auf ganz merkwürdige Weise. Alles schien irgendwie in der Schwebe zu sein, und wir arbeiteten wie für Fremde. Einer scherzte, für die neue Scheune im Dorf würde Stalin sicher einen Orden verleihen. Mein Bruder Helmut schrieb warnende Briefe: »Denkt nicht, es sind die Russen des Ersten Weltkriegs. Laßt alles zurück und rettet euer Leben!«
Seit Anfang August hörten wir den Kanonendonner, zum Schluss das nahe MG-Feuer. Besonders unheimlich war, dass - vielleicht vom Druck der Detonationen - ständig die Türen aufsprangen.
Am 23. Oktober gingen meine Mutter und ich und der bei uns arbeitende kriegsgefangene Pole Jan mit zwei Wagen auf die Flucht; ich lenkte den zweiten Wagen, der von einem kleinen Panjepferd gezogen wurde. Am selben Tag wurde mein Vater zum Volkssturm eingezogen - er hat aber lange vor uns den Westen, Nordfriesland, erreicht.
Wir fuhren ganz geordnet los; unterwegs lasen wir auch meine Schwester mit ihren Kindern auf. Das Vieh sollte mitgetrieben werden, ging aber bald verloren. Wir hatten Hafer für die Pferde und Bettzeug mit, und in einem Köfferchen habe ich ein paar Fotos retten können. Später brach sich ein Pferd den Fuß, dann hatten wir einen Wagen weniger und ein kaum zu lenkendes ungleiches Gespann. Aber meine Mutter, die schon im Ersten Weltkrieg vor den Russen hatte fliehen müssen, meinte optimistisch, wir würden doch im Frühjahr zurückkehren.
Ein Ziel hatten wir nicht. Im ersten Anlauf, am 7. November, kamen wir bis zum Rittergut Podangen des Grafen von Kanitz bei Preußisch-Holland [südöstlich Elbing] und wurden dort einquartiert - die Trecks durften nicht weiter. Auf der Post in Preußisch-Holland fand ich die letzten Briefe meiner Brüder, die man nicht mehr nach Osten befördert hatte.
Kaum zu glauben, aber wir wähnten uns dermaßen in Sicherheit, dass eine Gruppe beschloss, nach Kermenau zurückzukehren. Dort jedoch hatte sich die Wehrmacht einquartiert hatten. Also zurück nach Podangen.
Als ob tiefster Friede herrschte, sind wir mit dem Zug über Weihnachten zur Schwiegermutter meines Bruders Alfred in den Warthegau gefahren. Das Brot wurde knapp, oft gab es Pellkartoffeln mit Pomodore, sauer eingelegten Tomaten.
Am 21. Januar 1945 begann der zweite Teil der Flucht. Manche blieben in Podangen, so dass sie den Russen in die Hände fielen und für Jahre in Sibirien verschwanden. Von nun an schneite es ununterbrochen, es ging nur mühsam voran, und als Nachrichten von plattgewalzten Trecks die Runde machten, geriet meine Mutter in Panik: Kind, du musst weg! Irgendwie schafften wir es doch gemeinsam zum Bahnhof in Kämmersdorf [bei Elbing]. Dort stand zwar ein Zug, aber die Flüchtlinge drinnen machten die Türen erst nach langem Zureden auf. So fuhren wir am 23. Januar langsam durch Elbing - abends waren dort schon die Russen!
Es war mitten in der Nacht, irgendwo außerhalb von Marienburg, als wir furchtbare Schreie hörten - Frauen und Kinderstimmen in fast unmenschlichen Tönen. Der Zug fuhr weiter bis Henkenhagen, ein Badeort im Kreis Kolberg [Hinterpommern], wo wir uns sicher fühlten. Es kamen Trecks ohne Ende - und plötzlich niemand mehr.
Der letzte Güterzug nahm uns mit nach Westen. Auf den Straßen endlose Trecks, die von den russischen Tieffliegern beschossen wurden. Von den Waggons aus wurden regelrechte Plünderungszüge unternommen, um den Hunger zu stillen; Mütter erbettelten vom Lokfahrer eine Tasse heißes Wasser für ihre Kinder.
So erreichten wir Grevesmühlen [auf halber Strecke zwischen Wismar und Lübeck]; die Wirtsleute waren recht unfreundlich. Ich wurde dann, zusammen mit anderen Jugendlichen, zum Schanzen an die Oder zurückbeordert. Die Soldaten, die unsere Gräben besetzten, waren genauso jung, und sie sangen traurige Lieder: »Und kehrt mein Spähtrupp nie mehr zurück, Mädel, such dir ein anderes Glück« - Strandgut des Krieges bar jeder Hoffnung.
In mörderischen Fußmärschen, immer unter Tieffliegerbeschuss, bin ich nach Schwerin gekommen. Da waren die Amerikaner. Sie sahen gefährlich aus. Schauten uns starr an und richteten die Maschinenpistolen auf uns. Man warnte mich vor den Russen, die überall sein konnten, aber ich musste doch meine Mutter finden. Tatsächlich war sie noch in Grevesmühlen, grau im Gesicht und um Jahre gealtert.
Mir war jedes Zeitgefühl verloren gegangen; es muss aber nach dem 10. Mai gewesen sein.«
In den völlig überfüllten Städten verbreiteten sich Typhus und Diphterie; die Versorgungslage verschärfte sich. Waltraud Liedtke wurde zum Arbeitseinsatz abkommandiert. Erst im November erreichte sie Nordfriesland, wo der Vater ein bescheidenes Auskommen gefunden hatte. Ihrer Mutter erschien das erste Stück Weißbrot »wie de leewe Sonnke so hell«.

Artikel vom 03.03.2007