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1945 war die Hälfte der
Deutschen »unterwegs«

Zwischen Groll und Wehmut - Neue Heimat Bielefeld

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Obwohl die Städte der Britischen Besatzungszone arg zerbombt waren, fanden auch hier viele Flüchtlinge eine Bleibe: Industrie und Handwerk fahndeten in ganz Deutschland nach Fachkräften, nach Menschen, die kräftig zupacken konnten.

»Mein Vater war Schmiedemeister und bewirtschaftete zu Hause einen Hof«, berichtet Waltraud Liedtke aus dem Kreis Angerapp. »Vom Volkssturm hatte es ihn nach Nordfriesland verschlagen, und hier baute er sich eine bescheidene Existenz als Fuhrmann auf. Wenn er für eine Bäckerei Ware beförderte, fiel für uns auch mal ein Brot ab.« In Bielefeld schließlich versicherte sich Dürkopp-Adler seiner Fertigkeiten.
Manche flohen zweimal: zuerst vor den Russen, dann vor dem DDR-Regime. »Ich bin 1961 durch einen Gully abgehauen«, erzählt Uwe Rahnenführer, der in Bielefeld einen Malerbetrieb aufbaute. Seine Frau Magda, die zunächst Damenschneiderin gelernt hatte, machte im Westen einen Abschluss als Bekleidungstechnikerin.
Es war ein langer Weg gewesen.
Im Jahr 1945 waren etwa »50 Prozent der deutschen Bevölkerung ÝunterwegsÜ, das heißt, sie suchten ihre Verwandten, waren selbst vertrieben oder geflohen oder evakuiert«, schrieb der Bielefelder Historiker Thomas Niekamp 1986. Hinter diesen kühlen Zeilen verbergen sich namenloses Grauen, bittere Entbehrungen, eisige Kälte, schneidender Hunger, Mord und Totschlag ohne Zahl.
Kein Wunder, dass viele Überlebende nur zögernd über jene furchtbare Zeit sprechen. Zum Verlust der Heimat und der gesamten Habe kam die Kränkung hinzu, am neuen Wohnort nicht willkommen zu sein: So manches Mal war Polizeigewalt nötig, bevor die Besitzer des begehrten Wohnraums einem verzweifelten Heimatlosen die Tür öffneten.
Das übel zerbombte Bielefeld nahm bis 1950 zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene auf, alleine 4609 aus Ostpreußen. Sie alle tragen die verlorene Heimat im Herzen. Manche empfinden leise Wehmut, andere grollen - der Roten Armee oder den Polen, Hitler oder dem Gauleiter Erich Koch, über den schon lange vor Kriegsende der Spruch kursierte: Viele Köche verderben den Brei - ein Koch ganz Ostpreußen.
Einige bewahren die bemerkenswerte deutsche Kultur des Ostens, pflegen altes Brauchtum und fast vergessene Dialekte. »Läwe und Sproak tohus oppen Land« heißt eine Textsammlung, die Waltraud Liedtke und Hildegard Linge vom Arbeitskreis »Ostpreußisch Platt« ediert haben.
Das pensionierte Lehrerehepaar Herbert und Heinke Braß beteiligt sich höchst aktiv am Wiederaufbau der Krönungsstadt Königsberg, andere halten Briefkontakt zu Polen und Russen, die Haus und Hof von den deutschen Vorbesitzern übernahmen. »Bei den Besuchen in meiner Heimat bin ich stets gastfreundlich aufgenommen worden«, versichert Uwe Rahnenführer. »Polnische Freunde waren es auch, die mir halfen, das Massengrab, in dem mein Vater liegt, wieder herzurichten.«
Im Jahr 1952 legte der Rat der Stadt Bielefeld unter dem ironischen Titel »Ist nichts geschehen?« Rechenschaft über Anstrengungen ab, die nach damaliger Auffassung nur einen Präzedenzfall hatten: den Mongolensturm des 13. Jahrhunderts, nach dem auf zerstörten Siedlungen »in weitschauender Planung völlig neue Stadtkörper« entstanden, »die heute noch als hervorragende Beispiele deutscher Stadtschöpfung gelten.«
Vier Seiten der Schrift sind mit »Sechs Jahre Arbeit für die Vertriebenen« übertitelt. Ankunft eines Transports auf dem Bahnhof: »Schüchtern, mit steifen Gliedern, entsteigen dem Zuge verhärmte Gestalten, meistens Frauen, Kinder, alte Männer . . .« Erste Station: Auffanglager (1948 aufgelöst). Oberbürgermeister Artur Ladebeck schloss einen Aufruf mit den Worten: »So arm wir alle auch sein mögen, eines ist uns geblieben, die Bereitschaft zur Hilfe und der ernste Wille, daß niemand in seiner Not alleinstehen darf.«

Artikel vom 03.03.2007