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Hast du ihn auch gesehen?«, fragte Margaret. Sie hatte hektische rote Flecken im Gesicht bekommen. »Oder mit ihm geredet?«
»Nein.«
»Rachel hat ihn allein getroffen?«
»Ja. An einem Sonntag bevorÉ bevorÉ das passiert ist. Vor ein paar Wochen schon. Als sie zum Kindergottesdienst wollte. Er war in der Straße vor der Kirche.«
»Und hat sie angesprochen?«
»Ja. Er hat sie gefragt, wo sie hingeht und ob sie ihm vielleicht helfen könnteÉ«
»Und dann?«
Julia schluckte. »Dann hat er gesagt, dass er ein Pfarrer aus London ist und ganz tolle Bilder bei uns im Kindergottesdienst zeigen will. Über Kinder in Indien. Aber es soll eine Überraschung sein, und er muss sich darauf verlassen, dass Rachel keinem etwas erzählt. Nicht mal ihrer Mum und ihrem Dad, weil die es dann wieder jemand anderem erzählen, und plötzlich wissen es alle.«
»Hm«, machte Ken, »und Rachel wollte natürlich alles richtig machen und kein Spielverderber sein?«
Julia senkte den Kopf. »Sie hat es dann trotzdem mir erzählt. Als sie von ihrer Ferienreise zurückkam.«
»Oh - aber du warst ja auch ihre beste Freundin! Der besten Freundin erzählt man immer alles, das hätte auch der fremde Mann wissen müssen. Das ist ganz etwas anderes als mit den Eltern.«
»Ja?«, fragte Julia hoffnungsvoll. Offensichtlich wollte sie auf keinen Fall etwas Schlechtes über die tote Rachel sagen.
»Da kannst du ganz beruhigt sein. Wann hat sie dir von all dem erzählt?«
»ErstÉ erst am Samstag. An dem Samstag bevorÉ sie verschwunden ist. Sie war gerade aus den Ferien zurückgekommen und hat mich gleich besucht.«
»Wollte sie den fremden Mann noch mal treffen?«
»Ja. Er hat gesagt, er braucht eine Assistentin. Und das soll sie sein. Und sie soll ihn vor dem Kindergottesdienst im ChapmanÕs Close treffen. Er zeigt ihr dann, was sie genau machen muss, und nimmt sie im Auto mit zum Kindergottesdienst.«
Margaret schloss für Sekunden die Augen. Steve atmete tief.
»ChapmanÕs Close«, sagte Ken. Eine Straße, an deren Anfang sich ein paar Wohnhäuser befanden. Weiter hinten gab es dann nur noch Wiesen rechts und links, und am Ende ging sie in einen Feldweg über. Wenn ein Mann dort ein kleines Mädchen in sein Auto steigen ließ, konnte er ziemlich sicher sein, dass ihn niemand dabei beobachtete. Und er konnte zuvor in einer der angrenzenden Nebenstraßen warten und sich vergewissern, dass sein Opfer wirklich allein kam. Andernfalls hatte er genügend Möglichkeiten, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Ein einfacher Plan, der keine allzu großen Risiken barg.
»Ich war sauer auf sie«, sagte Julia. In ihren Augen blitzten Tränen. »Wir haben uns gestritten.«

K
en ahnte, weshalb. »Du hättest auch gern so eine Aufgabe gehabt, nicht? Assistentin von einem wichtigen Mann sein.«
»Ja. Ich warÉ richtig böse auf sie!« Jetzt rollten die Tränen über Julias Wangen. »Ich fand es so ungerecht. Immer Rachel! Immer passierten ihr so tolle Sachen. Ich dachte, ich platze, wenn sie da vorn steht und dem Mann mit den Dias helfen darf. Und ich muss mit den anderen Kindern hinten sitzen. Ich wollte gar nicht mehr zum Kindergottesdienst gehen.«
»Dann kamen dir deine Halsschmerzen ganz gelegen, oder?«

S
ie weinte heftig. »Es war gar nicht so schlimm. Es war nur einÉ kleines bisschen Halsweh. Ich habe zu Mum gesagt, dass ich ganz schöne Schmerzen habe, aber das hat gar nicht gestimmt. Ich wollte nicht dorthin, auf keinen Fall. Ich war so neidisch. DabeiÉ«
»Ja?«

J
ulia wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers über das nasse Gesicht. »Dabei war Rachel so lieb. Sie hat schließlich gesagt, dass ich mitkommen darf. Zum ChapmanÕs Close. Sie wollte den Mann fragen, ob er mich nicht auch brauchen kann. Aber ich war schon so sauer. Ich habe gesagt, ich will nicht.«
»O mein Gott«, rief Margaret leise.
Alle schwiegen. Alle drei Erwachsenen dachten das Gleiche: Was, wenn Julia Rachel begleitet hätte? Hätte sie deren grausames Schicksal geteilt? Oder, was wahrscheinlicher erschien, hätte der Fremde das Weite gesucht, wenn ein zweites kleines Mädchen auftauchte? Könnte Rachel noch fröhlich unter ihnen weilen, hätte es nicht den Streit zwischen ihr und Julia gegeben?

A
ber ohne den vorangegangenen Streit hätte Rachel wahrscheinlich gar nicht vorgeschlagen, ihre Freundin mitzunehmen, dachte Ken Jordan und rieb sich die Augen, die vor Erschöpfung brannten. Die letzte Viertelstunde hatte ihn völlig ausgelaugt.
»Wir werden das der Polizei melden müssen«, sagte er zu Steve und Margaret, »und vermutlich werden die auch noch einmal mit Julia sprechen wollen. Es tut mir leid, aberÉ«
»Das ist völlig in Ordnung«, stimmte Steve rasch zu, »wir möchten doch auch, dass der Typ gefasst wird, und vielleicht trägt Julias Aussage etwas dazu bei.«
»Warum hast du uns bloß nichts erzählt?«, wandte sich Margaret an ihre Tochter. Sie weinte. »Warum habt ihr beiden Mädchen nichts davon gesagt? Ich habe dir immer wieder erklärt, dass du dich von Fremden nicht ansprechen lassen darfst. Und Rachel hat das von ihrer Mutter bestimmt auch tausendmal gehört. WarumÉ«
»Nicht jetzt, Margaret«, unterbrach Steve leise, »das nützt jetzt nichts. Wir müssen später in Ruhe darüber reden.«

K
en wandte sich noch einmal an Julia. Er hatte wenig Hoffnung, dass sie ihm diese Frage beantworten konnte, aber er wollte sie trotzdem stellen.
»Hat Rachel dir erzählt, wie der Mann aussah?«
Julia nickte. »Ganz toll, hat sie gesagt. Wie einer aus dem Film.«
Ken, Steve und Margaret sahen einander an. Das konnte stimmen oder auch nicht. Vermutlich hatte Rachel die ganze Geschichte etwas aufgebauscht und aus ihrem Mörder einen Mister Universum gemacht. Aber auch wenn es sich tatsächlich um einen Adonis handelte - was nützte es?
Nichts, dachte Ken Jordan. Die Polizei weiß dann nur, dass Rachel von einem Mann ermordet wurde, der gut aussieht.
Trotzdem würde er, Sonntag hin oder her, sofort von daheim bei der Polizei anrufen. Vielleicht konnten die aus dem dürftigen Material mehr machen, als er vermutete.


5
Der Himmel über Skye war von einem stählernen, kalten, unverschleierten Blau. Der Sturm hatte im Lauf des Tages die letzten Wolken verblasen. Die Luft war klar wie ein Diamant. Das Meer spiegelte den Himmel, trug dicke weiße Schaumkronen auf seinen aufgewühlten Wellen. Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu. Nicht mehr lange, und dieser würde in pastellige Farben getaucht sein, die langsam emporsteigen und nach und nach die ganze Insel umhüllen würden, ehe die Nacht kam.
Die zweite Nacht. Die zweite Nacht mit Nathan.
Virginia war allein zu einem Spaziergang aufgebrochen. Sie wollte ein paar Stunden für sich sein, und Nathan hatte dieses Bedürfnis bei ihr gespürt, ohne dass sie es hätte in Worte fassen müssen. Er hatte erklärt, etwas Holz zu hacken, damit sie genügend Nachschub für den Kamin hatten. Sie hatte ihm einen dankbaren Blick zugeworfen, und er hatte gelächelt.

S
ie war über eine Stunde am Meer entlanggelaufen, über die lang gestreckte Hochfläche von Dunvegan Head, ohne einem Menschen zu begegnen, sie hatte sich völlig frei allen ihren Gedanken überlassen können. Irgendwann hatte sie angefangen, diese Gedanken zu ordnen.
Ich liebe Nathan.
Diese Liebe hat irgendetwas in mir verändert. Ich habe das Gefühl, nach langen Jahren wieder zu leben.
Ich habe ihm Dinge von mir erzählt, die niemand sonst weiß, auch nicht und schon gar nicht Frederic.
Ich werde ihm von meiner Schuld erzählen.
Ich möchte nicht wieder zurück in mein altes Leben.
Ich will dieses Gefühl von Freiheit, von Glück, von Lebendigkeit nie wieder hergeben.
Ich werde alles umstürzen. Ich werde Frederic verlassen. Ferndale. Vielleicht sogar England.
Alles, alles hat sich verändert.
Der Stand der Sonne sagte ihr, dass es besser wäre, an den Heimweg zu denken, wenn sie nicht von der Dunkelheit überrascht werden wollte. Sie freute sich auf den Abend. Auf das kleine, gemütliche Wohnzimmer. Das prasselnde Kaminfeuer. Den Wein. Nathans Zärtlichkeit. Sie sehnte sich schon wieder danach, mit ihm zu schlafen. Sie konnte nicht genug davon bekommen.

F
rederic hatte schrecklich geklungen am Telefon. Zu Tode verletzt. Schockiert. Verzweifelt. Trotzdem stand für sie fest, dass sie den eingeschlagenen Weg weitergehen würde. Sie hatte gar keine Wahl. Sie atmete anders als zuvor. Sie träumte anders. Sie hätte das Leben umarmen, es an sich pressen mögen.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.03.2007