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Sie war ungeheuer begeisterungsfähig gewesen, und Claire hatte diesen Zug besonders an ihr geliebt.
»Welcher Pfarrer?«, fragte Ken.
Sie sah auf, bemerkte, dass er die Stirn runzelte.
»Es sollte doch irgendein Pfarrer aus London kommen«, erklärte sie, »und Dias zeigen. ÜberÉ über Indien, glaube ich. Rachel war sehr gespannt darauf.«
»Das ist seltsam«, meinte Ken, »von einem solchen Projekt ist mir absolut nichts bekannt. Weder war ein anderer Pfarrer eingeplant noch ein Diavortrag. Für gewöhnlich spricht Don solche Dinge mit mir ab.«
»Aber Rachel hat ganz bestimmt davon geredet. Das weiß ich genau. Praktisch im Weggehen noch hat sie mir davon erzählt. Ich hatte noch gefragt, weshalb sie so fröhlich aussahÉ Rachel hat sich für alles interessiert, wissen Sie. Es gab nichts, was ihr gleichgültig gewesen wäre.«
Nun begann sie doch leise zu weinen. Es war jedoch nicht der erlösende Tränenstrom, es waren nur ein paar kleine, zaghafte Tränen. Rachel. Ach, meine Rachel. Könnte ich dich doch einmal noch in den Armen halten. Dein Lachen hören und in deine strahlenden Augen blicken. Die zarten Sommersprossen auf deiner Nase bewundern. Könnte ich noch einmal deine heißen Wangen an meinen fühlen. Könnte ich nur einen Tag wenigstens mit dir noch bekommen!
»Claire, es ist jetzt vielleicht nicht der richtige Moment, aber Sie sollten dieser Sache nachgehen«, sagte Ken. Er blickte sehr nachdenklich drein. »Ich bin fast überzeugt, dass nichts in dieser Art geplant war. Weder am letzten Sonntag noch irgendwann in der Zukunft. Donald Asher hat kein Wort über einen Diavortrag verloren. Mir fällt auch nichts ein, was Rachel falsch verstanden haben könnte. Mag sein, dass das alles einen ganz harmlosen Hintergrund hat, aber man sollte es nicht auf sich beruhen lassen.«
Sie hob den Kopf. Die Tränen waren schon wieder versiegt. Die Zeit des Weinens war noch fern.
»Das ist doch jetzt nicht mehr wichtig«, sagte sie.
Ken neigte sich vor. »Doch, Claire, das ist es. Denn diese Geschichte könnte in einem Zusammenhang mit Rachels Tod stehen. Ich werde selbst Nachforschungen anstellen. Als Erstes werde ich mit Don sprechen. Und wir müssen die Polizei informieren. Claire, Sie wollen doch auch, dass der Kerl gefasst wird, der Rachel und Ihnen so unvorstellbar Schreckliches angetan hat?«
Sie nickte. Sie war noch nicht so weit, dies wirklich zu wollen. In dem Meer des Schmerzes, durch das sie schwamm, war dieser Strohhalm noch nicht aufgetaucht. Der Strohhalm, für eine Gerechtigkeit nach Rachels Tod zu kämpfen.
Ken spürte das. Er sah sie sanft an. »Wie kann ich Ihnen helfen, Claire? Möchten Sie, dass wir zusammen beten?«
»Nein«, sagte sie.
Sie würde nie wieder in ihrem Leben beten.


3
Er hatte es Kim freigestellt, ob sie unter Livias Aufsicht in ihrem Elternhaus bleiben oder wieder zu Jack und Grace übersiedeln wollte, und Kim hatte sich für die ihr vertrauten Walkers entschieden. Er hatte sie am Mittag dort abgeliefert und angesichts von Graces heftiger Erkältung ein ziemlich schlechtes Gewissen verspürt, aber in ihrer netten Art hatte sie ihm dies sofort auszureden versucht.
»Wirklich, Sir, Kim ist wie unser Enkelkind, und ein Enkelkind kann zu seiner Großmutter, auch wenn die ein bisschen Schnupfen hat. Machen Sie sich nur keine Sorgen.«
»Ich muss leider nach London zurückÉ«
»Natürlich.«
»Morgen beginnt die Schule wiederÉ«
»Wir werden sie hinfahren und abholen. Das ist kein Problem. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Passen Sie vor allem auf sich selbst auf, Sir. Ich muss sagen, Sie gefallen mir gar nicht. Sie sind ja weiß wie eine Wand.«
Er hatte sich im Spiegel gesehen. Es stimmte, er sah zum Gotterbarmen aus. Ihn quälten heftige Kopfschmerzen. Seine Lippen waren grau, sein Mund zu einem Strich zusammengepresst.
»Nun ja. Die gegenwärtige Situation ist nichtÉ ganz einfach.«
Sie hatte ihn mitfühlend gemustert. Oh, wie er dieses Mitgefühl hasste! Das Schlimme war, er würde noch jede Menge davon abbekommen. Wenn erst herauskam, was tatsächlich der Grund für Virginias Flucht gewesen war. »Ihre FrauÉ hat sich immer noch nicht wieder gemeldet?«
»Nein«, behauptete er. Er hatte keine Lust, Grace Walker irgendetwas zu erklären, weder die Wahrheit noch irgendeine abgeschwächte Variante davon.

M
it seinem Leihwagen trat er den Rückweg nach London an. Er war in einem schrecklichen nervlichen Zustand, er wusste, es wäre besser gewesen, nicht mit dem Auto zu fahren. Aber still im Zug zu sitzen, zur Untätigkeit verdammt, erschien ihm völlig undenkbar. Beim Fahren war er wenigstens noch aktiv. Und da Sonntag war, herrschte wenig Verkehr, er kam gut durch.
Um vier war er in seiner Wohnung, wo er sich sofort einen großen Whisky einschenkte und in einem Zug austrank. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Bedürfnis, sich richtig zulaufen zu lassen. Sich zu besaufen, bis er nichts mehr spürte. Bis er nicht mehr wusste, wer er war. Oder Virginia. Bis er sich möglichst gar nicht mehr erinnerte, dass es überhaupt eine Frau in seinem Leben gab.

D
er Alkohol verscheuchte die allerquälendsten Bilder in seinem Gehirn, die Bilder, die Virginia in leidenschaftlicher Umarmung mit Nathan Moor zeigten, aber er vermochte nicht das Vergessen zu bringen, das sich Frederic ersehnte. Plötzlich fühlte er sich von dem kindischen Wunsch beseelt, Unfrieden und Beunruhigung in den satten Liebesrausch zu bringen, der sich da oben in seinem Haus auf Skye abspielte. Er ging ans Telefon und gab ein Telegramm auf: Bin wieder in London + terminliche Gründe + Kim bei Grace, die krank ist + morgen Schulanfang + dein Kind braucht dich + Frederic
Er verachtete sich ein wenig, fand aber, dass er keineswegs die Unwahrheit sagte und dass es durchaus angebracht war, Virginia an ihre Mutterpflichten zu erinnern. Es war ohnehin mehr als befremdlich, dass sie sogar ihr Kind vergessen hatte. Was hatte Nathan Moor mit ihr gemacht? Was gab er ihr? Was sah sie in ihm?
Es war zum Wahnsinnigwerden. Er wusste, dass der Kerl nicht in Ordnung war, er wusste es einfach, und er war überzeugt, dass diese Einschätzung nicht mit seiner Eifersucht zusammenhing. Abgesehen davon, hatte er genügend Hinweise von Livia erhalten. Bestsellerautor! Es wäre zum Lachen, wenn man nicht heulen müsste.
Livia.

E
r fand die Vorstellung, dass sie nun ganz allein in Ferndale wohnte, nicht besonders beruhigend, obwohl sie nicht im Mindesten der Typ war, der mit dem Silber durchbrennen würde. Er hätte sie nicht so einfach wegschicken können, zudem fand er, dass er nicht verpflichtet war, Nathans Gattin aus dem Weg zu räumen. Sollte sie ihn doch erwarten und ihm die Hölle heiß machen, wenn er von seinem kleinen Liebesabenteuer mit Virginia zurückkehrte. Leider nur war Livia ein so schrecklich verschüchtertes Mäuschen, allzu heftige Attacken würde ihr Mann nicht auszustehen haben.
Grace gegenüber hatte er sie als eine Urlaubsbekanntschaft bezeichnet, die sich einige Zeit in England aufhalten würde. Grace war zu höflich, näher nachzufragen, aber sicherlich gingen ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Von Kim wusste sie bestimmt längst, dass auch Nathan in Ferndale logiert hatte. Durch das urplötzliche Verschwinden Virginias mochte sie am Ende sogar Schlüsse ziehen, die durchaus in die Nähe der Wahrheit kamen. Vielleicht besprach sie sich mit Jack, der seinen Chef womöglich bereits insgeheim als den Gehörnten titulierte.

G
egen halb sechs Uhr hielt es Frederic in seiner Wohnung nicht mehr aus. Draußen herrschte regnerisches Wetter. Er zog seine Barbourjacke an und verließ das Haus, lief durch die Straßen und gelangte schließlich zum Hyde Park. Trotz des unangenehmen Nieselregens in der Luft hielten sich hier erstaunlich viele Menschen auf. Jugendliche Skateboardfahrer, Familien mit Kindern, ältere Menschen, die pflichtschuldig die ihnen ärztlich verordnete Runde drehten. Und Liebespaare. In der Hauptsache sah er Liebespaare. Hand in Hand oder eng umschlungen schlenderten sie über die Wege, blieben stehen, küssten einander, vergaßen sichtlich die Welt um sich herum.

M
it geschärftem Blick erkannte er, dass viele von ihnen wie verzaubert wirkten, eingesponnen zu zweit in einen Kokon, der sie der Welt und all ihrem banalen Treiben entfernte. Er überlegte, aber es fielen ihm keine Situationen ein, die ihn und Virginia in dieser Abgekehrtheit, in dieser völligen Fixierung aufeinander gezeigt hätten. Nicht einmal in ihrer allerersten Zeit. Und wenn er ganz ehrlich war, dann wusste er, dass er, was Virginia betraf, durchaus jene Verzauberung gespürt hatte, die er nun auf den Gesichtern der jungen Menschen ringsum wahrnahm. Aber er war allein gewesen damit. Er hatte sie geliebt, begehrt, bewundert. Er hatte sie angebetet. Er war verrückt nach ihr gewesen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.03.2007