09.03.2007
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Aber warum ich? Es ist so ungerecht! Ich habe Rachel so sehr geliebt. Sie war mein erstgeborenes Kind, ein Wunder, die Erfüllung eines Traums. Sie war ein Geschenk des Himmels.
Es gab nicht einen einzigen Moment, da Robert und ich nicht dankbar dafür waren, mit ihr leben zu dürfen.
Aber dann wieder war sie über sich selbst erschrocken, denn es war nicht in Ordnung, so zu denken, und dieses schreckliche Schicksal hätte Liz Alby so wenig zustoßen dürfen wie irgendjemandem sonst. Vor allem hätte es der kleinen Sarah nicht passieren dürfen. Keinem Kind durfte etwas so Grausames geschehen.
M
So würde es nie wieder sein. Auch wenn sie versuchen mussten, für die kleine Sue wieder ein Stück der ihr vertrauten, alten Welt herzustellen, wenn sie alles daran setzen mussten, ihr trotz allem eine schöne Kindheit zu schenken. Niemals würden sie aufhören können, die klaffende Wunde zu sehen, die Rachels Tod in die Familie gerissen hatte.
Am letzten Sonntag war hier für das Frühstück gedeckt gewesen. Cornflakes mit Milch und Obst für die beiden Mädchen, dazu Toastbrot und verschiedene Sorten Marmelade. Rachel hatte Kakao getrunken und danach wie immer einen dicken, dunkelbraunen Bart auf der Oberlippe gehabt. Trotz der Kontroverse wegen der Hausschuhe war sie fröhlich gewesen. Sie hatte sich auf den Gottesdienst gefreut.
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Hätte, hätte, hätteÉ Für immer würde es nun dieses grausame hätte geben. Ohne die geringste Chance, noch irgendetwas an den Dingen zu ändern, wie sie nun einmal geschehen waren.
Als es leise an der Haustür klopfte, wandte sich Claire von dem Zimmer, zwischen dessen Wänden so unendlich viele Erinnerungen hingen, ab und trat in den Flur hinaus. Robert war oben im Arbeitszimmer, er hatte das Klopfen wohl nicht gehört. Claire öffnete die Tür ohne Angst. Zwar wollte sie unter keinen Umständen mit Journalisten sprechen, aber sie hätte sich nicht gefürchtet, einen Pressevertreter ohne Umschweife zum Teufel zu schicken. Es gab im Augenblick ohnehin praktisch überhaupt nichts, was ihr Angst eingeflößt hätte. Vielleicht war das zwangsläufig der Fall, wenn einem das Schlimmste bereits zugestoßen war.
Es war der Pfarrer ihrer Gemeinde, der sie besuchen kam, Ken Jordan. Er blickte sie etwas unsicher an. Schließlich gehörte sie nicht zu den Kirchgängern.
»Wenn ich ungelegen komme, dann sagen Sie es bitte«, bat er. »Ich möchte Ihnen keinesfalls lästig fallen. Aber ich dachteÉ da es heute genau eine Woche her ist, seitÉ«
»Müssten Sie nicht in der Kirche sein?«, fragte Claire.
Er lächelte. »Ich habe noch etwas Zeit.«
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»So ein hübsches, liebenswertes Mädchen«, sagte Ken.
Sie nickte. »Ja.«
»Und das ist Ihre andere Tochter?« Direkt neben Rachels Foto stand eines von Sue. Eine vergnügte Sue im letzten Jahr am Strand von Wells-next-the-Sea. Im blauen Badeanzug und mit einem weißen kleinen Stoffhut auf dem Kopf.
»Das ist Sue.« Sag jetzt nicht, dass ich dankbar sein kann, sie wenigstens noch zu haben!
Er sagte es nicht. Hier war nichts gegenzurechnen, und das wusste er.
»Bitte nehmen Sie doch Platz«, sagte Claire.
Er setzte sich auf das Sofa. Er sah eigentlich gar nicht wie ein Pfarrer aus, fand sie. Jeans, anthrazitgrauer Rolli, farblich passendes Jackett. Er war noch ziemlich jung.
»Rachel ist sehr gern sonntags in den Kindergottesdienst gegangen«, sagte sie, »sie mochte Donald Asher so gern. Am meisten liebte sie es, wenn er Gitarre spielte und die Kinder dazu sangen.«
Er lächelte. »Ja, Don kommt bei den Kindern gut an. Er hat eine intuitive Art im Umgang mit ihnen.«
»Ich habe gestern die Mutter vonÉ von dem anderen Mädchen getroffen«, sagte Claire. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie ihm das erzählte. Vielleicht, weil er eine vertrauenerweckende Ausstrahlung hatte. Vielleicht war es aber auch nur ihr Versuch, Konversation zu machen. Sie war dieser Typ. Sie funktionierte auch dann noch, wenn ihr sterbenselend zumute war. »Liz Alby. Die Mutter von Sarah Alby.«
»Ja. Ich weiß. Ein ebenso entsetzlicher Fall.«
»Sie macht sich schlimme Vorwürfe. Sie hat Sarah kurz vorÉ vor deren Verschwinden nicht erlaubt, Karussell zu fahren, obwohl die es sich so sehr gewünscht hat. Sie haben wohl gestritten deswegen. Das geht ihr jetzt sehr nach. Ich kann das verstehen. Den ganzen Morgen schonÉ« Sie biss sich auf die Lippen.
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»Den ganzen Morgen schon überlege ich, wie meineÉ letzten Stunden mit Rachel waren. Ob es irgendeinen Missklang gab. Ich war ungehalten, weil sie barfuß in die Küche kam. Wir haben dort einen Steinfußboden, und Rachel bekam so rasch Halsentzündung. Ich meine, ich habe nicht richtig mit ihr geschimpft, aber ich war verärgert, weil ich sie so oft schon gebeten hatteÉ Ich weiß nicht mehr ganz genauÉ ich meine, ich weiß noch, was ich sagte, aber ich erinnere mich nicht mehr genau an meinen Tonfall, ob ich sie anfuhr, oder ob ich nur ein bisschen genervt warÉ« Sie konnte nicht weitersprechen. Es war egal, ob sie sie angefahren, angemeckert oder sich nur ein wenig gereizt gezeigt hatte. Es war in jedem Fall überflüssig gewesen. Nur weil sie keine Schuhe anhatte! Es war so unwichtig. So schrecklich unwichtig.
Ü
Seine Worte taten ihr gut, aber der Schmerz war zu heftig, zu frisch, als dass ein echter Trost möglich gewesen wäre. Im Moment konnte sie sich sowieso nicht vorstellen, dass es jemals einen Trost für sie geben konnte.
»Ich halte mich immer daran fest, dass sie sich so sehr auf den Kindergottesdienst freute an jenem Morgen«, sagte sie, »sie war ganz erwartungsvoll, wissen Sie. Wegen dieses Londoner Pfarrers, der irgendwelche Dias zeigen wollte. Sie konnte es gar nicht erwarten.«
Sie seufzte, sah Rachel vor sich in ihrer Aufgeregtheit und Fröhlichkeit.
Artikel vom 09.03.2007