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Nein, Sir«, sagte sie, »und wir waren wirklich die ganze Zeit über daheim. Es hat niemand angerufen.«
Grace war traurig, dass Kim zu ihrem Vater übersiedelte, aber da sie heftige Halsschmerzen hatte, hielt sie es für vernünftig. Daheim hatten Livia und Kim Papierbögen auf dem Küchentisch ausgebreitet und Wasserfarben bereitgestellt und zusammen zu malen begonnen. Frederic, der sich ausgepumpt und leer fühlte, registrierte dankbar Livias stillschweigendes Angebot, ihn für ein paar Stunden zu entlasten. Er war in die Bibliothek gegangen, zwischen den Fenstern herumgelaufen, hatte hinaus in die Bäume gestarrt. Die dunklen Zweige berührten die Scheiben.
Warum lassen wir die nicht endlich fällen?, dachte er. Was findet Virginia nur daran, sich hier lebendig zu begraben?
Ihm fiel darauf keine Antwort ein. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er die Frau, mit der er seit neun Jahren verheiratet war, vielleicht nur sehr wenig kannte.

D
ann hatte er mit dem ersten Schnaps begonnen, dem etliche weitere folgten, und schließlich war er todmüde ins Bett gekippt, nachdem er mitbekommen hatte, dass Livia Kim gerade eine Gutenachtgeschichte vorlas und er offenbar für diesen Tag nicht mehr gebraucht wurde.
Es war jetzt kurz nach acht Uhr. Er würde sofort in Dunvegan anrufen. Da Virginia nicht an ihr Handy ging, stand natürlich zu erwarten, dass sie auch auf das Telefon dort nicht reagieren würde, aber vielleicht rechnete sie nicht mit ihm und nahm automatisch den Hörer ab.

E
s war alles still, Livia und Kim schliefen offenbar noch. Er ging ins Wohnzimmer, schloss die Tür hinter sich. Er wollte ungestört sein.
Während er das Telefon läuten ließ, starrte er in den Regen hinaus. Es hätte November sein können. Ihm war kalt.
Er war völlig perplex, als sich nach dem vierten Läuten eine Stimme meldete. »Ja? Hallo?« Es war Virginia.
Er brauchte einen Moment, sich zu fassen.
»Virginia?«, fragte er dann. Seine Stimme war nur ein Krächzen. Er räusperte sich.
»Virginia?«, wiederholte er.
»Ja?«
»Ich bin es. Frederic.«
»Ich weiß«, sagte sie.
Er räusperte sich noch einmal. »Erstaunlich, dass du ans Telefon gegangen bist.«
»Ich kann ja nicht ewig weglaufen.«
»Du bist also auf Skye?« Diese Frage war nicht besonders intelligent, aber Virginia tat so, als sei sie zumindest berechtigt.
»Ja, ich bin auf Skye. Du weißt jaÉ«
»Was?«
»Du weißt ja, wie sehr ich die Insel liebe.«
»Ist das Wetter schön?«, erkundigte er sich höflich, desinteressiert und nur, um sich für das eigentliche Gespräch zu sammeln.
»Stürmisch. Aber trocken.«
»Hier bei uns regnet es seit heute früh.«
Sie ging nicht weiter auf den albernen Austausch von Wetterinformationen ein. »Wie geht es Kim?«
»Gut. Sie schläft hier bei mir. Grace ist ziemlich erkältetÉ«
Er hörte, dass sie seufzte.
Er musste die nächste Frage stellen, obwohl ihm heiß wurde beim Gedanken an die Antwort. »IstÉ ist Nathan Moor bei dir?«
»Ja.« Keine weitere Erklärung. Einfach nur ja. Als sei es das Normalste von der Welt, dass sie mit einem anderen Mann durchbrannte und ihre Familie im Ungewissen ließ.
War sie mit ihm durchgebrannt? Was implizierte der Begriff durchbrennen?
»Warum, Virginia? Warum? Ich verstehe es nicht!«
»Was meinst du? Warum Nathan Moor? Warum Skye? Warum jetzt?«
»Alles. Ich vermute, das hängt alles zusammen.«
Von der anderen Seite folgte ein so langes Schweigen, dass er schon meinte, Virginia habe aufgelegt. Als er gerade nachfragen wollte, sagte sie: »Du hast Recht, es hängt alles zusammen. Ich wollte nicht nach London kommen.«

F
ast hätte er gestöhnt. »Aber warum? Eine Dinnerparty! Eine lächerliche, einfache, normale Dinnerparty! Guter Gott, Virginia!«
»Es ging eben nicht.«
»Aber das hättest du mir sagen müssen. Ich habe Stunde um Stunde am Bahnhof gewartet. Ich habe mir die Finger wund gewählt, um dich auf dem Handy zu erreichen. Ich habe mir entsetzliche Sorgen gemacht. Ich habe die Walkers verrückt gemacht, die sich das auch nicht erklären konnten. Wir waren alle krank vor Sorge! Virginia, das passt doch nicht zu dir! Ich habe dich noch nie soÉ so skrupellos und egoistisch erlebt!«
Sie erwiderte nichts. Wenigstens versuchte sie sich nicht zu rechtfertigen.
Es wurde nicht leichter, nach Nathan Moors Rolle in dem Drama zu fragen, aber es blieb Frederic nichts anderes übrig. »War es seine Idee? Hat Nathan Moor dich überredetÉ«
»Nein. Mich musste niemand überreden. Ich wollte weg. Er hat mir nur dabei geholfen.«
»Geholfen? Weißt du, wie das klingt? Das klingt, als habe dir jemand zur Flucht verhelfen müssen! Als seist du eingesperrt gewesen bei mir, gegen deinen Willen festgehalten, eingemauert, eingekerkertÉ«
»Unsinn«, unterbrach sie, »so war das nicht. Und du weißt, dass ich das auch nicht gemeint habe.«
»Aber was meinst du dann? Was war los? War es wirklich nur diese Party in London?«
»Ich glaube, ich kann dir das gar nicht alles erklären.«
»Ach nein? Und du meinst nicht, dass ich nach all dem wenigstens das Recht auf eine Erklärung habe?«
»Natürlich hast du das.« Plötzlich klang sie müde. »Nur passt das vielleicht nicht zu einem Telefongespräch.«
»Du bist davongelaufen, anstatt mit mir zu reden. Es war nicht meine Idee, dass wir nur noch per Telefon kommunizieren.«
»Ich versuche nicht, meine Verantwortung für all das abzuschieben, Frederic.«
»Für all das? Für was?«
Sie erwiderte nichts. Aggressiv fragte er: »Was ist zwischen dir und Nathan Moor?«
Wieder schwieg sie.
Er merkte, dass eine kalte Angst, gemischt mit ebenso viel Wut in ihm hochkroch. Er fand, dass die Wut sogar ein wenig stärker war.
»Was ist zwischen dir und Nathan Moor?«, wiederholte er. »Verdammt, Virginia, sei bitte ehrlich! Das ist das Mindeste, was du mir schuldest!«
»Ich liebe ihn«, sagte sie.
Ihm blieb fast die Luft weg.
»Was?«
»Ich liebe ihn. Es tut mir leid, Frederic.«
»Du haust mit ihm nach Dunvegan ab, in unser Haus, und dann sagst du mir am Telefon so einfach, dass du ihn liebst?«
»Du hast gefragt. Und du hast Recht, du verdienst Ehrlichkeit.«
Ihm war schwindelig, und er hatte das Gefühl, als bewege er sich durch einen bösen Traum. »Seit wann? Seit wann läuft das zwischen euch? Seitdem er hier in Ferndale aufgekreuzt ist?«
Sie klang gequält. »Begriffen habe ich es erst hier auf Skye. Aber ich glaubeÉ«
»Ja? Was?«
»Ich glaube«, sagte sie leise, »verliebt in ihn habe ich mich in der ersten Sekunde. Auch hier auf Skye. Damals gleich nach dem Schiffsunglück.«

F
rederic meinte, alle Zimmerwände auf sich zukommen zu sehen. »Deshalb also. Deshalb deine plötzlich so überaus wohltätige Ader. Die ganze Zeit fragte ich mich, weshalb du gar nicht aufhören kannst, diesen wildfremden Menschen ständig deine hilfreichen Hände entgegenzustrecken. Aber nun wird manches klar. Es waren, weiß Gott, nicht nur deine hilfreichen Hände, nicht wahr? Nathan Moor dürfte eine ganze Menge mehr von dir bekommen haben.«
»Du bist verletzt, und ich kann verstehen, dassÉ«
»Ach ja? Du kannst verstehen, dass ich verletzt bin? Wie ginge es denn dir in der umgekehrten Situation? Wenn ich einfach verschwunden wäre und dir bald darauf lapidar mitteilen würde, dass ich mich in jemand anderen verliebt habe?«
»Es wäre entsetzlich. AberÉ ich kann nichts dafür, Frederic. Es ist passiert.«
Die Wirkung des Schocks ließ nach. Die Wände standen wieder gerade, Frederic bekam wieder Luft.
»Du weißt, dass du auf einen Betrüger und Hochstapler hereingefallen bist?«, fragte er kalt.
»Frederic, es ist klar, dass duÉ«
»Hat er dir inzwischen gestanden, dass er überhaupt kein Schriftsteller ist, der berühmte Bestsellerautor? Oder prahlt er noch immer mit seinen großartigen Erfolgen?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Vielleicht solltest du dich mal mit Livia unterhalten. Denn falls du es vergessen hast: Dein neuer Liebhaber ist auch noch verheiratet. Aber das stört dich vermutlich nicht weiter. Schließlich bist du auch verheiratet, und das war für dich gar kein Hinderungsgrund, in sein Bett zu springen.«
Sie schwieg.
Klar, dachte er aggressiv, was soll sie darauf auch sagen?
»Tatsache ist, nicht ein einziges Buch wurde je von ihm veröffentlicht. Es gibt keinen Verleger, der sein wirres Geschreibsel zu drucken bereit ist. Nathan Moor hat sich während der letzten zwölf Jahre ausschließlich bei seinem Schwiegervater durchgeschnorrt und nach dessen Tod auch noch Livia um alles gebracht, was eigentlich ihr gehörte. Das ist die feine Art dieses Schmarotzers! Aber wen interessiert das, wenn er im Bett gut ist! StimmtÕs?«
»Was soll ich dazu sagen?«, fragte sie hilflos.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.03.2007