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Sie rannten Hand in Hand am Wasser des Dunvegan-Fjords entlang, schmeckten Salzwasser auf den Lippen, rochen den Seetang. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Die Möwen um sie herum wetteiferten in ihrem Kreischen mit dem Tosen des Sturmes, breiteten weit die Flügel aus und ließen sich in wilden Achterbahnflügen durch die Luft tragen.
Sie liefen, bis ihre Lungen und ihre Seiten schmerzten und sie beide rote Wangen von der frischen Luft hatten, dann kehrten sie eng umschlungen langsam zum Haus zurück und gingen wieder ins Bett. Sie machten weiter, wo sie aufgehört hatten, erschöpfter jetzt als am frühen Morgen, zärtlicher, ruhiger, geduldiger als zuvor. Seit den Tagen mit Andrew hatte sich Virginia nicht mehr zu einem Mann sexuell so stark und unvermeidlich hingezogen gefühlt wie zu Nathan. Sie konnte nicht genug bekommen, wollte ihn wieder und wieder, lag zwischendurch in seine Arme geschmiegt, spürte seinen Herzschlag an ihrem Rücken und fühlte, wie alles in sie zurückströmte, was sie vor so langer Zeit verlassen und was sie für immer verloren geglaubt hatte: Leben, Frieden, Zuversicht, Gelassenheit und Glück. Abenteuerlust und Neugier. Ein erwartungsvolles Vertrauen in die Zukunft.

W
eil er da ist, dachte sie verwundert, nur weil er da ist, verändert sich alles.
Es war fast sechs Uhr am Abend, als sie feststellten, dass sie Hunger hatten.
»Und, ehrlich gesagt, auch Durst«, sagte Nathan und schwang seine Beine aus dem Bett, »außer dem Kaffee heute früh hatte ich nichts zu trinken.«
»Ich hatte nicht mal den«, meinte Virginia, »und bislang hat er mir auch nicht gefehlt.«
Sie zogen sich an, stiegen die steile Treppe hinunter und inspizierten die Speisekammer. Zum Glück gab es etliche Konserven, und es fanden sich auch einige Flaschen Wein. Sie stellten einen Weißwein kalt, dann machte sich Virginia an die Zubereitung des Essens, während Nathan Holz aus dem Garten holte und den Kamin im Wohnzimmer in Gang setzte. Virginia stand am Herd und blickte mit glänzenden Augen hinaus in den stürmischen Septemberabend, der ein unglaubliches Wechselspiel aus wolkenverhangener Düsternis und goldfarbenem Licht bot. Sie dachte auf einmal: Dies hier festhalten. Diese Stunden und Tage auf Skye. Zusammen mit diesem Mann. Nur ein bisschen noch, ein bisschen noch festhalten!

I
m nächsten Moment wurde ihr bewusst, dass sie mit diesen Gedanken instinktiv zum Ausdruck brachte, wie abgegrenzt von der Welt draußen sich ihr Glück auf der Insel abspielte. Was immer zwischen ihnen noch geschehen würde, es konnte nur mit Problemen behaftet sein.
Im Kamin brannte ein warmes, knisterndes Feuer, und jenseits der Fenster senkte sich langsam die Dunkelheit über das Land. Nur schattenhaft noch waren die Bäume am Ende des Gartens wahrnehmbar, die sich tief unter dem Sturm bogen. Virginia und Nathan saßen direkt vor den Flammen auf dem Fußboden, verzehrten ihre einfache Mahlzeit, die ihnen köstlicher vorkam als alles, was sie je gegessen hatten, tranken den Wein, sahen einander immer wieder an, verwundert und bezaubert. Nach all den Tagen und Nächten, die sie zusammen in Ferndale verbracht hatten und während derer sie nicht auf die Idee gekommen wären, einander zu berühren, waren sie fassungslos über die Intensität der Leidenschaft, mit der sie sich konfrontiert gesehen hatten, nachdem das Festland hinter ihnen geblieben war und sie das Gefühl gehabt hatten, plötzlich in eine andere Wirklichkeit geraten zu sein.
»Wir werden zurückmüssen«, sagte Virginia nach einer Weile. »Skye und dieses Haus hier, das wird nicht für ewig
sein.«
»Ich weiß«, sagte Nathan.
Sie schüttelte den Kopf, nicht ablehnend, nur erstaunt. »Ich habe Frederic noch nie zuvor betrogen.«
»Kommt es dir wie ein Betrug vor?«
»Dir nicht?«
Er überlegte. »Es geschah so zwangsläufig. Wir hätten nichts dagegen tun können. Seit ich das Bild von dir gesehen hatte, du weißt, das alte Foto, das dich in Rom zeigt, wusste ichÉ«
»Was? Dass du mit mir schlafen wolltest?«
Er lachte. »Dass ich diese Frau wiederfinden wollte. Und jetzt ist sie da.«
Sie nahm einen weiteren Schluck Wein, schaute in die Flammen. »Was empfindest du, wenn du an Livia denkst?«
Offen gestanden, habe ich bislang nicht an sie gedacht. Hast du etwa den ganzen Tag über an Frederic gedacht?« Er sah sie so entsetzt an, dass sie nun auch lachen musste. »Nein. Nein, wirklich nicht. Aber ich denke jetzt an ihn. Ich frage mich, was ich ihm sagen werde.«
»Am besten die Wahrheit.«
»Wirst du Livia die Wahrheit sagen?«
»Ja.«
»Was wirst du sagen?«
»Dass ich dich liebe. Dass ich sie nie geliebt habe.«
Sie schluckte. »Ich glaube, ich habe Frederic auch nie geliebt«, sagte sie leise. Sie seufzte tief. Was sie nun fühlte, dachte und auch aussprach, hatte er nicht verdient, das wusste sie. Dennoch war es die Wahrheit.
»Er war da, als ich einen Menschen brauchte. An einem sehr einsamen und traurigen Punkt meines Lebens war er da. Nach Tommis Tod und als Michael sozusagen bei Nacht und Nebel verschwunden war. Er war verständnisvoll, fürsorglich. Er liebte mich. Er gab mir Wärme und Geborgenheit. Er war wie ein Hafen, in den ich flüchten konnte. Aber ich liebte ihn nicht. Und deshalb wohl konnte ich auch nicht wirklich aus der Starre auftauchen, in die mich Tommis Tod gestürzt hatte. Ich war immer noch einsam, nur spürte ich es nicht mehr so stark.« Sie sah Nathan an. »Glaubst du, dass das so ist? Dass wir an der Seite eines Menschen, den wir nicht lieben, einsam bleiben?«
»Zumindest dann, wenn wir vorher schon einsam waren, ja. Etwas Wichtiges in uns wird dann nicht berührt.Wir sind nicht mehr allein, aber wir sind einsam.«
»Ich war wie tot vor Einsamkeit«, sagte Virginia, »es wurde erst nach Kims Geburt etwas besser. Aber sie ist ein Kind. Sie konnte mir nie ein Partner sein.«
Zärtlich strich er ihr mit dem Finger über die Wange. Sie hatte in den letzten Stunden gemerkt, wie sehr sie die Sanftheit seiner großen, kräftigen Hände liebte.
»Aber jetzt bin ich da«, flüsterte er. Vorsichtig schob er die Gläser beiseite, drängte Virginia langsam mit seinem Gewicht zu Boden. Sie seufzte voller Behagen und Verlangen. Sie begannen einander im warmen Schein der tanzenden Flammen zu lieben, während es draußen Nacht über den Inseln wurde.


Sonntag, 3. September1
E
r fragte sich, weshalb er nicht früher darauf gekommen war.
Er hatte in der Nacht von Samstag auf Sonntag zum ersten Mal seit jenem alles verändernden Donnerstag tief geschlafen
- nicht, weil er sich plötzlich ruhiger oder zuversichtlicher gefühlt hätte, aber die Erschöpfung war so groß geworden, dass ihn selbst Angst und Unruhe nicht länger wachzuhalten vermochten. Vielleicht lag es auch daran, dass er im Lauf des Abends ein paar Schnäpse zu viel getrunken hatte, jedenfalls war er plötzlich weg gewesen, und als er erwachte, war es schon hell draußen, und ein dünner Regen sprühte gegen die Fensterscheibe seines Schlafzimmers.
Er setzte sich auf und dachte: Skye. Was, wenn sie nach Skye gefahren ist?

V
irginia liebte die Insel, und sie liebte das kleine Haus dort mit dem großen, wilden Garten. Wenn sie verwirrt oder verstört war - und irgendetwas musste ja los sein mit ihr, sonst hätte sie diese seltsame Flucht nicht angetreten -, konnte man sich durchaus vorstellen, dass sie sich an einen Ort zurückziehen würde, der ihr schon immer viel bedeutet hatte.
Frederic stand auf, zog seinen Morgenmantel an. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem Kopf, was darauf hindeutete, dass er tatsächlich dem Schnaps zu sehr zugesprochen hatte.
Den Samstag hatte er zwischen Wut, Verzweiflung und schließlich in einer Art Resignation verbracht. Am Vormittag war er auf seinem Posten am Telefon der Walkers gewesen, aber schließlich hatte er sich derartig geschämt, dass er das Verwalterhaus verlassen hatte und mit Kim in den Tierpark gefahren war. Das Kind spürte, dass etwas nicht stimmte, obwohl sämtliche Erwachsenen ständig versicherten, es sei alles in Ordnung. Aber die Tiere heiterten es auf. Es war wolkig und kühl, aber noch nicht regnerisch gewesen, und Frederic hatte es geschafft, sich für eine Weile auf die Begeisterung seiner Tochter konzentrieren zu können. Am Nachmittag war er mit ihr zu McDonaldĂ•s gegangen, sie hatten Big Mäcs gegessen und Schokoladenmilchshakes getrunken.
»Möchtest du mit mir nach Hause kommen?«, hatte Frederic gefragt, und obwohl Kim so gern bei den Walkers war, hatte sie erfreut genickt. Das hatte sein Herz erwärmt. Wenigstens sein Kind war noch ganz bei ihm.

Z
urück in Ferndale, hatte er dennoch als Erstes bei den Walkers gefragt, ob Virginia angerufen hatte. Beide, Jack und Grace, hatten ihn bekümmert angeblickt. Graces Erkältung war offensichtlich schlimmer geworden, sie hatte gerötete Augen und trug einen Schal um den Hals.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.03.2007