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Mein Mann hat mir erzählt, dass Sie angerufen haben«, sagte Claire, »und dass Sie angeboten haben, mit mir zu sprechen. Ich weiß, ich sollte trotzdem nicht um halb siebenÉ«
»Nein, wirklich, machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin froh, dass Sie mich anrufen. IchÉ brauche auch jemanden zum Reden.«
»Wir haben inzwischen unsere Telefonnummer geändert«, sagte Claire, »es haben so viele Leute angerufen. Vor allem Journalisten. Aber ich möchte nicht mit Journalisten sprechen. Die vermarkten doch nur den Tod meines Kindes.«

L
iz dachte an die Talkshow, in der sie kurz nach Sarahs Tod gewesen war. Erst später war ihr aufgegangen, wie sehr man sie benutzt hatte.
»Ja, da muss man vorsichtig sein«, bestätigte sie.
»Könnten SieÉ ich meine, könnten wir uns vielleicht einmal treffen?«, fragte Claire schüchtern. »Ich weiß nicht, ob Sie Zeit haben, aberÉ«
»Ich habe Zeit. Wollen wir gleich etwas ausmachen? Heute Vormittag?«
»Das wäre wunderbar!« Claire klang erleichtert. »Vielleicht irgendwo in der Innenstadt. Ich könnte mit dem Bus dorthin kommen. Ich kann nicht Auto fahren, weil ich so viele Tabletten nehme.«
Sie einigten sich auf ein Café am Marktplatz um elf Uhr.

Ich habe Sie im Fernsehen gesehen«, sagte Claire, »ich werde Sie erkennen.« Zögernd fügte sie hinzu: »Sie taten mir so entsetzlich leid damals. Ich ahnte nicht, dass ich selbst so bald daraufÉ« Sie verstummte. Betäubt von der Wucht des Schmerzes, der sich kaum aushalten ließ.
Scheißkerl, dachte Liz, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Sie starrte zur Decke hinauf. Scheißkerl! Er zerstört die Kinder, und er zerstört alle um sie herum. Verdammter Scheißkerl!
Da es klar war, dass sie nun nicht mehr einschlafen würde, stand sie auf, zog ihren Bademantel an und streifte dicke Socken über ihre ewig kalten Füße. Sie zog die Vorhänge zurück und blieb am Fenster stehen, starrte hinaus in das zaghafte Erwachen des schon herbstlich gefärbten Morgens.

S
ie überlegte, ob sie, als sie gerade das Wort zerstört gedachte hatte, auch sich selbst gemeint hatte. Es war eine schreckliche Vorstellung, zerstört zu sein. Als zerstört hatte sie immer ihre Mutter empfunden, und sie hatte sich geschworen, dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben sollte. Sie war noch so jung. Sie wollte leben. Lachen, tanzen, fröhlich sein. Lieben. Es wäre so schön, irgendwann einen Mann zu treffen, den sie liebte und der ihre Gefühle voller Ehrlichkeit und Wärme erwiderte. Aber konnten zerstörte Frauen noch lieben?
Regenschwere Wolken am Himmel. Schon wieder. Der Sommer hatte sich wirklich verabschiedet. Vielleicht brauchte sie Sonne, damit es ihr besser ging.

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as war zumindest so etwas wie ein Plan. Ein Gedanke, eine Perspektive. Wie das genau aussehen sollte, wusste sie nicht. Aber die Vorstellung, wegzugehen, irgendwohin, wo es warm war, versorgte sie zum ersten Mal seit jenem Augusttag in Hunstanton wieder mit einem Anflug von Energie. Positiver Energie. Ein anderes Land. Spanien. Südfrankreich. Italien. Sonne und blauer Himmel, Olivenbäume, hohes, trockenes Gras, das sich im heißen Wind wiegte. Nächte unter samtschwarzem Himmel. Das rauschende Meer, warmer Sand unter den Füßen. Nie wieder hinter der Kasse in der Drogerie sitzen. Nicht länger dem körperlichen, seelischen und moralischen Verfall ihrer Mutter zusehen müssen. Und vielleicht noch mal Kinder haben. Nicht als Ersatz für Sarah. Sondern als Vertrauensbeweis an das Leben. Den Kopf an die Scheibe gelehnt, fing sie an zu weinen.

3
Der Wind, der sie am Vorabend in Kyle of Lochalsh begrüßt und dafür gesorgt hatte, dass sie im gleißenden Abendsonnenlicht die Brücke nach Skye überqueren konnten, war über Nacht zum Sturm geworden. Frisch und kalt kam er über das Meer gejagt, fegte heulend über die Insel. Die Wellen draußen türmten sich zu meterhohen Brechern auf. Die Bäume bogen sich bis fast zur Erde. Über den Himmel rasten Wolkenfetzen, getrieben von einer wütenden Kraft, ballten sich zwischendurch zu hohen Türmen zusammen und wurden dann gleich darauf wieder auseinandergerissen und weitergewirbelt.

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irginia erwachte vom Pfeifen und Toben um sie herum und wunderte sich, dass sie trotz allem so tief und fest geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte die lange Autofahrt sie völlig erschöpft. Die Müdigkeit war am gestrigen Abend jäh und schlagartig über sie hergefallen. Ganz plötzlich hatten sie alle Energie, alle Kraft verlassen. Sie hatte das Haus aufgeschlossen, war hinauf in ihr Zimmer geschlichen, hatte es gerade noch geschafft, sich das Bett zu beziehen, ihre Zähne zu putzen, in einen Schlafanzug zu schlüpfen. Dann lag sie schon zwischen den weichen Kissen und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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s war sieben Uhr, der Tag brach gerade herein. Durch ihr Fenster konnte sie den Himmel sehen. In den Lücken zwischen den Wolken trug er kühle Pastellfarben. Später würde er in ein leuchtendes Blau übergehen.
Sie sprang aus dem Bett, fröstelte in der kalten Luft. Sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt, die Heizung im Haus anzuschalten, hatte sich sofort unter die Bettdecken geflüchtet. Rasch zog sie ihren warmen Wollpullover über den Schlafanzug, schlüpfte in ihre knöchelhohen, dick gefütterten Hausschuhe. Mit wirren Haaren und ungewaschenem Gesicht kam sie sich wie eine Vogelscheuche vor, aber das war ihr gleichgültig. Sie brauchte rasch einen Kaffee. Mit einer großen, heißen Tasse würde sie sich dann wieder in ihr Bett zurückziehen und den Tag ganz langsam beginnen. Nathan schlief sicher noch.

A
ls sie jedoch ins Wohnzimmer trat, stand er dort bereits am Fenster. Er trug Jeans, dazu einen Rollkragenpullover von Frederic, der ihm wie üblich an den Schultern zu eng war. Es roch nach Kaffee im Zimmer. Nathan hatte einen Becher in der Hand.
Er wandte sich nicht um, aber er hatte ihr Kommen offenbar bemerkt, denn er sagte: »Hast du das Licht draußen gesehen? Den Sturm? Die Wolken? Es ist unglaublich.«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Ein fantastischer Tag. Solche Tage machen mir immer wieder klar, weshalb ich den Norden so liebe.«
»Mehr als den Süden?«
»Ja. Viel mehr.«
Er drehte sich um, sah sie an. Der erste Schatten eines Bartes lag auf seinem Gesicht. »Ich auch«, sagte er, »ich liebe den Norden auch mehr als den Süden.«
Sie wusste nicht, weshalb sie plötzlich Herzklopfen bekam. »Ich dachte immer, ich sei die Einzige mit dieser Vorliebe.«
»Nein. Bist du nicht.«
»Ich liebe auch den Herbst mehr als den Frühling.«
»Ich auch.«
»Ich liebe Weißwein mehr als Rotwein.«
Er lachte. »Ich auch.«
»Ich kämpfe mich lieber durch einen Wintersturm, als im Sommerwind spazieren zu gehen.«
Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Was ist es, wonach du dich in Wahrheit sehnst?«, fragte er leise.
»In Wahrheit?«

D
u liebst nicht, was lieblich ist. Sanft, warm, umschmeichelnd. Du liebst, was rauh ist, kalt, herausfordernd. Du liebst alles, was dich spüren lässt, dass du lebst. Du sehnst dich so sehr nach dem Leben, Virginia. So sehr man sich nur sehnen kann, wenn man in einem alten Gemäuer sitzt, umgeben von hohen Bäumen, die Sonne und Wind und die ganze Welt draußen fern halten.«
Sie merkte zu ihrem Entsetzen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Um Gottes willen, jetzt nicht heulen! Welche Saite hatte er angeschlagen mit seinen Worten?
»Ich willÉ«, sagte sie und verstummte.
»Was? Was willst du, Virginia?«
Sie holte tief Luft. »Ich wollte eigentlich nur einen Kaffee haben«, sagte sie.
Er stellte seinen Becher auf den Tisch, trat noch einen Schritt näher. »Und was noch? Was wolltest du noch?«

V
erwirrt blickte sie an ihm vorbei. Innerhalb der letzten zwei Minuten hatte sie sich auf etwas Neues eingelassen. Der Ton zwischen ihnen hatte sich verändert. Sie hatten nur über ihrer beider Vorlieben gesprochen, oder nicht? Irgendwie schienen sie ganz andere Informationen ausgetauscht zu haben. Noch begriff sie nicht ganz, was geschehen war und weshalb es geschehen war.
»Was wolltest du noch? Weshalb bist du mit mir nach Skye gefahren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doch. Du weißt es.«
»Nein.«
»Du weißt es«, beharrte er und trat noch näher. Er stand jetzt dicht vor ihr. Sie roch die Seife, mit der er sich gewaschen hatte. Sein lächelnder Mund war zum Greifen nah. Sein Atem streifte ihre Wange.
Und zu ihrer Verwunderung verspürte sie nicht das Bedürfnis, zurückzuweichen.
Sie liebten sich den ganzen Tag über. Am Mittag verließen sie für zwei Stunden das Bett und liefen an den Strand, durch einen tobenden Sturm voller Wolken, Sonne und vereinzelten Regenspritzern. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.03.2007