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Mit Oliver Twist oder Werther fühlen

ZiF-Tagung über Figuren in Literatur und Film lotet aus, was das Menschsein bedeutet

Bielefeld (sas). Goethes »Werther« berührte: Es kam, weil viele Menschen sein Gefühlswelt nachvollziehen konnten, zu Selbstmorden. Andere Leser identifizieren sich mit berühmten Detektiven wie Hercule Poirot oder einer Heldin wie Effi Briest.

Dabei sind sie doch allesamt nur literarische Figuren: erdacht, gestaltet und mit Bedeutung aufgeladen. Mit diesen Figuren in fiktionalen Welten befasst sich in der kommenden Woche eine Tagung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Uni.
»Hamlet, Oliver Twist, Columbo oder Donald Duck - sie alle gibt es nicht, und doch reagieren wir mit der Spannbreite menschlicher Regungen auf sie«, sagt Prof. Dr. Ralf Schneider. Er leitet gemeinsam mit Fotis Jannidis, Darmstadt, und Jens Eder, Hamburg, die Tagung und befasst sich seit Jahren mit der Figurenrezeption und der Frage, was es bedeutet, sich mit den Figuren eines Romans, Films oder auch Computerspiels zu identifizieren.
»Die Frage, was Menschsein ist, beantworten eben nicht nur Religion oder Philosophie«, sagt Schneider. Egal, ob Fiesling oder Held: »Die Figuren reizen das Spektrum dessen aus, was es heißt, Mensch zu sein.« Für Schneider ist es keine Frage, dass der Mensch fiktive Figuren und Welten benötigt, um sich leichter mit Wirklichkeiten auseinanderzusetzen und Grenzen zu testen: So bedienen Krimis die düstere Seite durch folgenloses »Probehandeln«. Zugleich stoßen sie mit der Nase auf Werte: Selbst wenn der Autor Unmoral nicht kritisiert, wird dem Leser ein moralisches Urteil abverlangt.
Darüber hinaus fungieren die wichtigen literarische Figuren als »Stereotypen-Killer«: Sie bedienen eben nicht die Erwartungshaltung des Lesers, sondern durchbrechen sie - für den Literaturwissenschaftler und Anglisten ein Qualitätsmerkmal. »Und der Reiz liegt der Figur liegt auch in der Darstellung von Innenwelten, darin, dass man beim Denken und Fühlen quasi zusehen kann.« Und nicht selten kommt es zum »Blending«: Teile des Selbst werden verschmolzen mit der Roman- oder Filmfigur.
Wieviel vom eigenen Selbst zuweilen einfließt, merkt man, wenn Literatur verfilmt wird. Nicht selten ist der Kinobesucher, der die Vorlage kennt, enttäuscht. »Als ich die Emma-Verfilmung mit Gwyneth Paltrow gesehen habe, war ich entsetzt: Ich hatte Emma immer dunkelhaarig gesehen«, schmunzelt Schneider.
Zudem bleibt beim Medium Film einiges auf der Strecke: »Die Komplexität leidet unter dem Zeitmangel.« Dafür, bricht der 40-Jährige eine Lanze für das Zelluloid, bedeute der Film einen Zugewinn an Emotion: durch Farbe, Schnitte, Musik, Gesichtsausdrücke.
Trotz seines wissenschaftlichen Interesses beim Lesen lässt auch Schneider sich durch Bücher immer wieder bewegen: zuletzt durch »Abbitte« von Ian McEwan. Und seine Studierenden hat jüngst die Hauptfigur in »Mansfield Park« von Jane Austen »fast zum Wahnsinn getrieben«, weil sie ihr Leben partout nicht in die Hand nimmt. Dennoch haben sie einen Gewinn aus der Lektüre gezogen: Denn literarische oder cineastische Artefakte - schließlich mit Hintergrund und Plan gestaltet - zu analysieren, ihre Strukturen zu erkennen, bewertet Schneider als eine kulturelle Kompetenz.

Artikel vom 23.02.2007