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Am Haus schloss er leise die Tür auf und trat ein. Er wollte Livia nicht wecken, die ihren Schlaf ganz sicher auch brauchte. Doch als er das Licht im Flur anschaltete, sah er sie auf der Treppe sitzen. Sie trug ein Nachthemd von Virginia, das er ihr gegeben hatte, und hatte sich in eine grüne Wolldecke gehüllt. Sie war weiß wie die Wand.
»Livia! Sie sitzen hier im Dunkeln?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Warum haben Sie dann nicht wenigstens den Fernseher eingeschaltet? Oder sich ein Buch geholt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur nachgedacht.«
»Und worüber?«
»Über die Situation. Meine Situation. Wie es passieren konnte, dassÉ«
»Was?«
»Dass ich jetzt hier sitze.« Sie machte eine Handbewegung, die den Flur, das Haus meinte. »In einem geliehenen Nachthemd mit einer geliehenen Decke um die Schultern. Wissen Sie, was mir vorhin einfiel? Ich besitze nicht einmal mehr einen Pass. Keinen Führerschein. Absolut nichts.«
»In all diesen Angelegenheiten würde Ihnen die deutsche Botschaft weiterhelfen.«
»Ich weiß.«

E
r seufzte, strich sich über die Augen, die vor Müdigkeit brannten. »Aber das hatten wir ja schon. Die Botschaft kann Ihnen kein neues Zuhause beschaffen. Es istÉ« Er schüttelte den Kopf. »Ich sollte jetzt wahrscheinlich gar nicht weiter darüber sprechen. Im Grunde bin ich viel zu erschöpft. Sicher bringe ich kaum noch einen klaren Gedanken zustande.«
»Sie müssen unbedingt schlafen«, sagte Livia. Nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu: »SieÉ hat nicht noch einmal angerufen, nicht wahr?«
»Nein. Ich vermute, sie konnte sich ausrechnen, dass ich vor dem Telefon sitze wie ein Hund vor dem Knochen. Und mit mir will sie offenbar unter keinen Umständen ein Wort wechseln.« Er überlegte. Obwohl er völlig erledigt war, rumorten Fragen über Fragen in seinem Kopf. Am Ende würde er gar nicht schlafen können, wenn er sie nicht wenigstens angeschnitten hatte.
»Sowohl Grace Walker als auch Kim waren absolut sicher, dass Virginia aus einem Auto heraus telefonierte. Und sie machte laut Grace nicht den Eindruck, als sei sie verstört oder verzweifelt. Es war wohl nicht so, dass sie gegen ihren Willen in diesem Auto saß.«
»Hatten Sie das erwartet?«
Er nickte. »Es war Teil meiner Überlegungen, ja. Dass Nathan Moor sieÉ«
»Dass er sie verschleppt hat?«
»Liegt der Gedanke nicht durchaus nahe, wenn zwei Menschen gleichzeitig verschwinden und man zumindest einen von ihnen noch nie zuvor so egozentrisch und rücksichtslos erlebt hat?«
»Aber warum sollte Nathan Virginia entführen?«
»Um Geld zu bekommen?«
»Nein!« Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »So ist er nicht. Er ist nicht kriminell. Er erzählt Geschichten, die nicht stimmen, er biegt sich die Wirklichkeit so lange zurecht, bis sie für ihn passt, aber er ist kein Verbrecher. Wenn Virginia jetzt mit ihm zusammen ist, dann ist sie das freiwillig. Daran gibt es für mich keinen Zweifel.«

S
o wenig Frederic die Vorstellung gefallen hatte, dass Virginia entführt worden war, so unangenehm und beängstigend erschien ihm auch der Gedanke, dass Virginia aus freien Stücken mit Nathan Moor durchgebrannt war. Diese Möglichkeit barg Bilder in sich, die er in seinen schlimmsten Träumen nicht sehen wollte.
»Nun«, sagte er in scharfem Ton, »vielleicht gibt es verschiedene Anschauungen, was den Begriff kriminell betrifft. Ich würde sagen, alles, was Sie mir über ihn erzählt haben, zeigt zumindest eine ausgeprägte Tendenz in eine kriminelle Richtung. Sich jahrelang vom Schwiegervater aushalten lassen, irgendwelches Geschreibsel verfassen, das niemand verlegen und erst recht niemand lesen möchte, das alles ist schon mehr als eigenartig. Und was hat er dann getan? Kaum war Ihr Vater tot, hat er alles zu Geld gemacht, was eigentlich Ihnen gehörte, sich ein Schiff gekauft und eine Weltumsegelung angetreten, zu der Sie überhaupt keine Lust hatten. Es gehört ein ziemliches Maß an Rücksichtslosigkeit dazu, einer Frau das Zuhause wegzunehmen in der Absicht, sie um den halben Erdball herumzuschleifen, und es gehört noch mehr Rücksichtslosigkeit dazu, sie zur Annahme irgendwelcher Gelegenheitsjobs in fremden Häfen zu nötigen. Dann schafft er es noch, das Schiff in den buchstäblichen Untergang zu segeln, und um das Maß voll zu machen, bringt er Sie in ein Krankenhaus und macht sich aus dem Staub. Sie hätten jetzt auf der Straße stehen können! Was dachte er, wohin Sie gehen sollten? In ein Obdachlosenasyl?«
Sie sah ihn still an. In ihren Augen glitzerten Tränen. Eine löste sich und rollte über ihre Wange.
»Ich weiß nicht, was er dachte. Ich weiß es nicht.«
Er musste die Frage einfach stellen. Es war demütigend für sie beide, aber er wusste, dass er trotz seiner brennenden Müdigkeit keinen Schlaf finden würde, wenn er jetzt nicht fragte.
»Livia, verzeihen Sie, das klingt sehr indiskret, aberÉ ich meine, ist Ihr Mann jemalsÉ gab es jemals Frauengeschichten während Ihrer Ehe?«
Sie hob abrupt den Kopf, starrte ihn an. »Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sagte. Hatten Sie Probleme mit ihm wegen anderer Frauen?«
»Was genau wollen Sie wissen?«

E
r atmete tief. Es war so entsetzlich. »Sie sagten, wenn meine Frau jetzt mit ihm zusammen ist, dann aus freiem Willen. Sie sind überzeugt, dass er sie nicht verschleppt, entführt oder sonst irgendwie genötigt hat, mit ihm zu kommen. Also liegt doch die Frage naheÉ Könnte es sein, dass er sich irgendwelche Hoffnungen auf sie macht?«
Livia schwieg eine ganze Weile. Dann sagte sie: »Warum fragen Sie mich das?«
»Nun, weilÉ«
»Wenn Virginia freiwillig mit ihm gegangen ist, könnten Sie diese Frage doch auch an sich selbst richten.« Ihre Stimme wurde sehr leise. Sie wirkte nicht aggressiv, als sie fragte: »Könnte es sein, dass sich Virginia irgendwelche Hoffnungen auf ihn macht? Hatten Sie jemals Probleme wegen anderer Männer?«
Er war wie vor den Kopf geschlagen.
Er vermochte keine Antwort zu geben.
Ihm war nur sofort klar, dass er trotz seiner schmerzhaften Müdigkeit die ganze Nacht über kein Auge zumachen würde.

2
Liz Albys Telefon klingelte am frühen Morgen und riss sie aus einem unruhigen Schlaf. Sie hatte von Sarah geträumt. Es war kein schöner Traum gewesen, denn Sarah schrie und quengelte und versuchte ständig, auf das Dach eines hohen Hauses zu klettern. Sie hangelte sich an einem Balkongitter entlang. Liz stand unten und wusste, dass es eine Frage der Zeit war, bis ihr Kind stürzen würde. Sie rannte hin und her, um im Ernstfall mit ausgebreiteten Armen dazustehen, aber es gelang ihr nicht, die Flugbahn des kleinen Körpers zu berechnen. Ganz gleich, wohin sie sich stellte, es hatte immer den Anschein, dass Sarah an der entgegengesetzten Seite aufschlagen würde. Liz war schon ganz verzweifelt, aber da hörte sie ein lautes Schrillen und wusste, dass die Feuerwehr zu ihrer Hilfe nahte. Im nächsten Moment erwachte sie und begriff, dass das Telefon läutete.
Sie starrte auf die Uhr neben ihrem Bett. Halb sieben. Wer rief so früh an?
Der Telefonapparat stand gleich neben der elektronischen Uhr. Liz setzte sich auf, knipste das Licht an, nahm den Hörer ab.
»Ja?«, fragte sie. Ihre Stimme klang noch etwas heiser.
Auf der anderen Seite herrschte Schweigen.
»Ja?«, wiederholte Liz ungeduldiger.
Die Stimme am anderen Ende klang ebenfalls krächzend. Jedoch nicht verschlafen. Sondern vollkommen kraftlos.
»Mrs. Alby?«
»Ja. Wer ist denn da?«
»Hier ist Claire Cunningham.«
Liz brauchte eine Sekunde, dann begriff sie. »Oh«, sagte sie überrascht, »Mrs. Cunningham!«
»Ich weiß, es ist eine unmögliche Uhrzeit«, sagte Claire. Sie sprach ein wenig schleppend, die Endungen ihrer Worte verwischten ganz leicht. Da Liz nicht davon ausging, dass Claire Cunningham morgens um halb sieben betrunken war, nahm sie an, dass sie unter ziemlich starken Beruhigungsmitteln stand.
»Ich war schon wach«, behauptete Liz. Schließlich war sie ja dankbar, dass jemand ihren verzweifelten Traum beendet hatte.
»Mein Mann ist endlich eingeschlafen«, sagte Claire, »er hat seitÉ seit erÉ« Sie holte tief Luft. »Seit er Rachel identifiziert hat, konnte er nicht mehr richtig schlafen. Jetzt schläft er ganz tief. Ich möchte ihn nicht wecken.«
»Ich verstehe.«
»Aber ich werde fast verrückt. Ich muss immerzu reden. Wenn ich schweige, meine ich zu ersticken. Ich muss über Rachel reden. Über das, wasÉ mit ihr geschehen ist.«
»Das ging mir in den ersten Tagen ganz genauso«, sagte Liz.

S
ie entsann sich ihrer vergeblichen Versuche, mit ihrer Mutter in ein Gespräch zu kommen. Sie hatte fast gebettelt. Aber natürlich hatte ihre Mutter nicht reagiert. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.03.2007