02.03.2007
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»Hast du überlegt, ihn zu verlassen?«
»Ständig. Jeden Tag. Aber mir war klar, dass er dann untergehen würde. Ich fing langsam an, selbst durchzudrehen. Ich fühlte mich plötzlich an Michael gefesselt, obwohl ich ja, bevor der Unfall geschah, in Gedanken schon ständig unsere Trennung durchgespielt hatte. Es war eine Zeit, die ichÉ die ich nie wieder erleben möchte.«
S
»Wohin ging er?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das wusste er wohl selbst noch nicht. Ich denke, ihm schwebte eine Art Nomadendasein vor. Er hoffte, zumindest ein gelegentliches Vergessen zu finden, wenn er nur ständig in Bewegung bliebe. Heute hier, morgen da. Ich solle ihn nicht suchen, schrieb er. Ich solle mein eigenes Leben führen, frei von ihm.«
»Hast du ihn denn je gesucht?«, fragte Nathan.
»Nein.«
»Dann hast du keine Ahnung, was aus ihm geworden ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie wieder von ihm gehört. Er war fort, so als habe es ihn nie gegeben.«
»Welch ein Absturz«, meinte Nathan nachdenklich. »Ein intelligenter junger Mann, der offenbar eine Karriere an der Universität vor sich hatte, der womöglich einmal Professor in Cambridge geworden wäreÉ und dann passiert eine solche Geschichte. Wo ist er heute? Lebt er auf der Straße? Als Landstreicher? Hängt er am Alkohol? Oder ist es ihm gelungen, noch einmal so etwas wie eine bürgerliche Existenz aufzubauen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Virginia.
»Würdest du es gern wissen?«
»Ich glaube nicht.«
E
Sie starrte zum Horizont. Der Gipfel des Sgurr Alasdair tauchte erneut aus den zerfetzten Wolken auf, übergossen nun vom Abendlicht. Anstelle einer Antwort nickte sie Nathan zu.
»Lass uns jetzt über die Brücke fahren«, sagte sie.
Samstag, 2. September
1
Er hatte es noch einige Male auf ihrem Handy versucht, war aber wie zuvor stets nur auf der Mailbox gelandet. Sie hatte den Apparat wahrscheinlich ausgeschaltet, was bedeutete, sie wollte tatsächlich auf keinen Fall von ihrem Mann behelligt werden.
W
Lag es an dem Fest? Hatte er sie derart überfahren, hatte sie sich so sehr unter Druck gefühlt, dass sie nur noch davonlaufen konnte? Sie hatte zögernd, sehr zögernd eingewilligt, das stimmte, doch er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass sie in Panik war. Sie hatte sich sogar ein neues Kleid gekauft. Das hatte er als ein absolut positives Zeichen gewertet. Frauen, die sich für einen gesellschaftlichen Anlass ein neues Kleid kauften, befanden sich nicht in einem völlig desolaten Zustand. Hatte er jedenfalls gedacht. Jetzt fand er, dass es für diese Annahme nicht den geringsten Beweis gab.
Er hatte in London bei den Gastgebern des festlichen Abends angerufen und sich und seine Frau entschuldigt. Sie sei sehr heftig erkrankt, er könne sie im Moment nicht allein lassen. Auf der anderen Seite reagierte man sehr höflich, aber er hatte den Eindruck, dass man ihm nicht glaubte. Dann telefonierte er mit einem Parteifreund, um ihn ebenfalls in Kenntnis zu setzen, dass er nicht da sein würde. Er blieb bei der Version von der erkrankten Ehefrau, hatte aber wiederum den Eindruck, dass ihm nicht so recht Glauben geschenkt wurde.
»Das ist ganz und gar ungünstig«, hatte der Freund gesagt, »ausgerechnet diesen Abend abzusagen!«
»Ich weiß. Ich habe es mir nicht ausgesucht.«
»Du musst wissen, was du tust.«
Ja, dachte er nun, ich muss wissen, was ich tue. Und es verantworten.
Die Zeiger der Standuhr in der Ecke verrieten, dass es schon halb eins in der Nacht war. Er saß nun schon über fünfzehn Stunden in diesem Zimmer. Grace hatte ihm Essen angeboten, aber er hatte keinen Hunger, nahm nur dankend den Kaffee, den sie ihm brachte. Zweimal im Lauf des Tages und einmal am Abend hatte das Telefon geklingelt, und er hatte sofort den Hörer abgenommen, aber einmal war es ein Handwerker gewesen, der einen Termin bestätigte, einmal eine Freundin von Grace und einmal ein Kumpel von Jack, der die übliche sonntägliche Kneipentour verabreden wollte. Ansonsten blieb alles still.
Sie würde nicht mehr anrufen.
E
Ich will jetzt nicht in Wut geraten. Mir fehlt die Energie. Wenn ich jetzt wütend werde, klappe ich zusammen.
Er erschrak, als hinter ihm ein Niesen erklang. Es kam von Grace, die gerade das Zimmer betrat, im weißen, bodenlangen Morgenmantel, der über und über mit roten Rosenknospen bestickt war.
»Sie sind ja immer noch hier, mein Gott! Sie sehen todmüde aus, Sir, wenn ich das so sagen darf.« Sie nieste erneut. »Himmel! Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung!«
»Oh, Grace! Ich glaube, ich kann kaum noch geradeaus gucken. Wie geht es Kim? Schläft sie?«
»Wie ein Murmeltier. Sir, Sie sollten jetzt auch ins Bett gehen. Ich glaube nicht, dassÉ dass Mrs. Quentin heute Nacht noch anruft. Sie wird weder uns noch Kim aus dem Schlaf reißen wollen.«
Er wusste, dass sie Recht hatte. Natürlich würde heute Nacht nichts mehr geschehen.
Er stand auf. »Ich gehe hinüber. Wenn sie doch noch anruftÉ«
»Dann sage ich Bescheid. Jetzt versuchen Sie mal, ein bisschen zu schlafen, Sir. Sie sehen wirklich zum Gotterbarmen aus.«
Sie begleitete ihn zur Haustür, drückte ihm Jacks Taschenlampe in die Hand, damit er seinen Weg durch den Park fand. Er atmete tief. Die frische, kühle Luft tat ihm gut, das Laufen auch. Er hatte viel zu lange auf ein und demselben Fleck gesessen.
Artikel vom 02.03.2007