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Vermutlich. Aber es ging einfach nicht. Ich war ja vorher schon so weit von ihm entfernt gewesen. Seine depressive Art, sein ewiges Lamentieren - all das ertrug ich im Grunde ja schon lange nicht mehr. Und nun war das alles noch schlimmer geworden. Wie sollte ich plötzlich damit zurechtkommen?« Sie strich sich die Haare zurück. Ihr Blick heftete sich noch immer auf die Insel unter den jagenden Wolken. »Ich wusste doch genau, wie unser Leben von da an ausgesehen hätte. Tag um Tag, Stunde um Stunde wären wir um das Thema Schuld gekreist. Michael hätte niemals damit aufgehört. Denn dazu hätte er anfangen müssen, sich selbst zu verzeihen, und das wäre ihm wie ein Verrat an Tommi und dessen Schicksal vorgekommen.«
»Hast du überlegt, ihn zu verlassen?«
»Ständig. Jeden Tag. Aber mir war klar, dass er dann untergehen würde. Ich fing langsam an, selbst durchzudrehen. Ich fühlte mich plötzlich an Michael gefesselt, obwohl ich ja, bevor der Unfall geschah, in Gedanken schon ständig unsere Trennung durchgespielt hatte. Es war eine Zeit, die ichÉ die ich nie wieder erleben möchte.«

S
ie sah Nathan endlich an. »Und dann beendete er selbst die Qual unseres Zusammenseins. Als ich von einem Wochenende zurückkehrte, das ich bei einer Freundin in London verbracht hatte, war er weg. Mit ihm zwei Koffer und die meisten seiner Klamotten. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Abschiedsbrief an mich. Er schilderte darin die Verzweiflung, in der er seit Tommis Tod lebte, er rollte noch einmal das ganze Ausmaß seiner Schuld auf. Er warf sich ja nicht nur vor, das Auto nicht abgeschlossen zu haben, er klagte sich auch für seine Zuneigung zu Tommi an. Damit erst habe er ihn an sich gebunden, ihn zu einem Dauergast bei uns gemacht. Nur so habe das alles passieren könnenÉ Ach, er schrieb in dem Brief all das, was er auch sonst stets erzählt hatte. Und dann, zum Schluss, gab er mich gewissermaßen frei.«
»Wohin ging er?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das wusste er wohl selbst noch nicht. Ich denke, ihm schwebte eine Art Nomadendasein vor. Er hoffte, zumindest ein gelegentliches Vergessen zu finden, wenn er nur ständig in Bewegung bliebe. Heute hier, morgen da. Ich solle ihn nicht suchen, schrieb er. Ich solle mein eigenes Leben führen, frei von ihm.«
»Hast du ihn denn je gesucht?«, fragte Nathan.
»Nein.«
»Dann hast du keine Ahnung, was aus ihm geworden ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie wieder von ihm gehört. Er war fort, so als habe es ihn nie gegeben.«
»Welch ein Absturz«, meinte Nathan nachdenklich. »Ein intelligenter junger Mann, der offenbar eine Karriere an der Universität vor sich hatte, der womöglich einmal Professor in Cambridge geworden wäreÉ und dann passiert eine solche Geschichte. Wo ist er heute? Lebt er auf der Straße? Als Landstreicher? Hängt er am Alkohol? Oder ist es ihm gelungen, noch einmal so etwas wie eine bürgerliche Existenz aufzubauen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Virginia.
»Würdest du es gern wissen?«
»Ich glaube nicht.«

E
r sah sie an. »Was ich nicht verstehe, istÉ weshalb hat dich das alles so traurig gemacht? Ich meine, sicher ist dir der Tod des kleinen Jungen nahe gegangen, bei wem wäre das nicht so? Auch Michaels Schicksal läßt dich natürlich nicht ungerührt. Vielleicht plagen dich auch dann und wann Schuldgefühle, weil du nicht nach ihm gesucht, weil du ihn letztlich nicht gerettet hast. Aber das alles reicht mir nicht aus, dich zu erklären. Was hat dich in die Dunkelheit von Ferndale gejagt, Virginia? Wovor versteckst du dich unter den Bäumen dort? Was quält dich so, dass du nicht leben magst?«
Sie starrte zum Horizont. Der Gipfel des Sgurr Alasdair tauchte erneut aus den zerfetzten Wolken auf, übergossen nun vom Abendlicht. Anstelle einer Antwort nickte sie Nathan zu.
»Lass uns jetzt über die Brücke fahren«, sagte sie.

Samstag, 2. September
1Seit Stunden schon starrte er den Telefonapparat an, zuerst hoffnungsvoll, später zunehmend zermürbt, müde und frustriert. Er glaubte schließlich nicht mehr, dass sich Virginia noch einmal melden würde. Seit ihm Jack von dem Anruf berichtet hatte, saß er vor dem Apparat im Wohnzimmer der Walkers und hoffte, er würde noch einmal die Gelegenheit bekommen, mit Virginia zu sprechen. Er war sich fast sicher, dass sie nicht im Haupthaus anrufen würde, denn es ging ihr offenbar ausschließlich um eine Kontaktaufnahme mit Kim, und solange sie diese bei den Walkers wusste, würden die ihre Anlaufstelle sein. Obwohl sie vielleicht vermutete, dass sie dort auch auf ihren Mann treffen würde.
Er hatte es noch einige Male auf ihrem Handy versucht, war aber wie zuvor stets nur auf der Mailbox gelandet. Sie hatte den Apparat wahrscheinlich ausgeschaltet, was bedeutete, sie wollte tatsächlich auf keinen Fall von ihrem Mann behelligt werden.

W
arum nur?, fragte er sich schon die ganze Zeit, warum nur? Was ist denn bloß geschehen? Was habe ich ihr getan?
Lag es an dem Fest? Hatte er sie derart überfahren, hatte sie sich so sehr unter Druck gefühlt, dass sie nur noch davonlaufen konnte? Sie hatte zögernd, sehr zögernd eingewilligt, das stimmte, doch er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass sie in Panik war. Sie hatte sich sogar ein neues Kleid gekauft. Das hatte er als ein absolut positives Zeichen gewertet. Frauen, die sich für einen gesellschaftlichen Anlass ein neues Kleid kauften, befanden sich nicht in einem völlig desolaten Zustand. Hatte er jedenfalls gedacht. Jetzt fand er, dass es für diese Annahme nicht den geringsten Beweis gab.
Er hatte in London bei den Gastgebern des festlichen Abends angerufen und sich und seine Frau entschuldigt. Sie sei sehr heftig erkrankt, er könne sie im Moment nicht allein lassen. Auf der anderen Seite reagierte man sehr höflich, aber er hatte den Eindruck, dass man ihm nicht glaubte. Dann telefonierte er mit einem Parteifreund, um ihn ebenfalls in Kenntnis zu setzen, dass er nicht da sein würde. Er blieb bei der Version von der erkrankten Ehefrau, hatte aber wiederum den Eindruck, dass ihm nicht so recht Glauben geschenkt wurde.
»Das ist ganz und gar ungünstig«, hatte der Freund gesagt, »ausgerechnet diesen Abend abzusagen!«
»Ich weiß. Ich habe es mir nicht ausgesucht.«
»Du musst wissen, was du tust.«
Ja, dachte er nun, ich muss wissen, was ich tue. Und es verantworten.
Die Zeiger der Standuhr in der Ecke verrieten, dass es schon halb eins in der Nacht war. Er saß nun schon über fünfzehn Stunden in diesem Zimmer. Grace hatte ihm Essen angeboten, aber er hatte keinen Hunger, nahm nur dankend den Kaffee, den sie ihm brachte. Zweimal im Lauf des Tages und einmal am Abend hatte das Telefon geklingelt, und er hatte sofort den Hörer abgenommen, aber einmal war es ein Handwerker gewesen, der einen Termin bestätigte, einmal eine Freundin von Grace und einmal ein Kumpel von Jack, der die übliche sonntägliche Kneipentour verabreden wollte. Ansonsten blieb alles still.
Sie würde nicht mehr anrufen.

E
r hätte nach London fahren und an der Party teilnehmen sollen, anstatt hier sinnlos herumzusitzen und auf etwas zu warten, das nicht geschah. Unter seiner Müdigkeit begann sich Zorn zu regen. Es war so unfair von ihr! Was immer ihre Gründe sein mochten, wie verständlich sie vielleicht am Ende auch waren - es war unfair, einfach davonzulaufen. Sie hätte mit ihm reden müssen. Notfalls mit ihm streiten. Aber nicht einfach verschwinden.
Ich will jetzt nicht in Wut geraten. Mir fehlt die Energie. Wenn ich jetzt wütend werde, klappe ich zusammen.
Er erschrak, als hinter ihm ein Niesen erklang. Es kam von Grace, die gerade das Zimmer betrat, im weißen, bodenlangen Morgenmantel, der über und über mit roten Rosenknospen bestickt war.
»Sie sind ja immer noch hier, mein Gott! Sie sehen todmüde aus, Sir, wenn ich das so sagen darf.« Sie nieste erneut. »Himmel! Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung!«
Er rieb sich mit beiden Händen die brennenden Augen. Er fühlte sich, als habe er jahrelang nicht geschlafen.
»Oh, Grace! Ich glaube, ich kann kaum noch geradeaus gucken. Wie geht es Kim? Schläft sie?«
»Wie ein Murmeltier. Sir, Sie sollten jetzt auch ins Bett gehen. Ich glaube nicht, dassÉ dass Mrs. Quentin heute Nacht noch anruft. Sie wird weder uns noch Kim aus dem Schlaf reißen wollen.«
Er wusste, dass sie Recht hatte. Natürlich würde heute Nacht nichts mehr geschehen.
Er stand auf. »Ich gehe hinüber. Wenn sie doch noch anruftÉ«
»Dann sage ich Bescheid. Jetzt versuchen Sie mal, ein bisschen zu schlafen, Sir. Sie sehen wirklich zum Gotterbarmen aus.«
Sie begleitete ihn zur Haustür, drückte ihm Jacks Taschenlampe in die Hand, damit er seinen Weg durch den Park fand. Er atmete tief. Die frische, kühle Luft tat ihm gut, das Laufen auch. Er hatte viel zu lange auf ein und demselben Fleck gesessen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.03.2007