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4 Sie kamen gegen fünf Uhr am Nachmittag in Kyle of Lochalsh an, einem kleinen Dorf, von dessen Hafen aus man früher die Fähre nach Skye genommen hatte. Inzwischen gab es außerdem die Brücke, die sich in eindrucksvollem Bogen über den Loch Alsh hinüber zur Insel spannte. Skye lag zum Greifen nah vor ihnen, ragte aus einem schiefergrauen, stürmisch bewegten Meer empor. Der Gipfel des höchsten Berges verschwand in den schwarzen, dramatisch zusammengeballten Wolken, die der Wind über den Himmel jagte. Gelegentlich riss er Lücken in die wild bewegte Masse, dann blitzte ein Stück leuchtend blauer Himmel auf, und gleißendes Sonnenlicht fiel theatralisch zur Erde hinab, verwandelte die bleierne Farbe des Meeres in glitzerndes Silber und ließ bizarre Schatten über die Landschaft tanzen. Dann schloss sich die Lücke schon wieder, und die Welt lag erneut in Düsternis und Dämmerung.

S
ie saßen im Auto auf einem Parkplatz, der zu einem imposanten, schneeweißen Gebäude gehörte, dem Lochalsh Hotel. In einem kleinen Laden im Dorf hatten sie sich Mineralwasser gekauft, hielten jeder eine Flasche auf dem Schoß und tranken immer wieder durstig. Niemand außer ihnen war zu sehen. Der Sommer war vorüber, Reisende zog es nicht mehr so hoch hinauf in den Norden. Kreischende Möwen jagten über die Felsen, die gleich vor dem Hotel ins Wasser abfielen. Sonst war keine lebende Seele weit und breit zu sehen.
Virginia hätte gern Kim noch einmal angerufen, wagte es aber nicht, da sie fürchtete, dass Frederic bei den Walkers Stellung bezogen hatte und sofort ans Telefon gehen würde, wenn es klingelte. Seit ihrem Anruf am Morgen musste er damit rechnen, dass sie sich wieder meldete. Oder war er nach London zurückgekehrt? Es war Freitag, später Nachmittag. In drei Stunden würde die Party beginnen, die so wichtig für ihn war. Vielleicht nahm er daran teil, murmelte irgendetwas von einer plötzlichen Erkrankung seiner Frau und lavierte sich irgendwie durch den Abend. Blass wahrscheinlich, sehr sorgenvoll.

E
r wusste, dass Virginia am Leben war, hatte aber keine Ahnung, wo sie sich aufhielt und was eigentlich geschehen war. Er zermarterte sich den Kopf und fand keine Antwort. Ob ihm schwante, dass ihre Flucht etwas mit Nathan Moor zu tun hatte? Er musste verzweifelt und ratlos sein. Und vor genau dieser Verzweiflung und Ratlosigkeit fürchtete sie sich. Sollte er die Party abgesagt haben und bei den Walkers am Telefon warten, würde sie sie geballt abbekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte.
»Ich hoffe einfach, dass Kim sich keine Sorgen um mich macht«, sagte sie.
Nathan nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. »Nach allem, was du mir erzählt hast, wird sie bei den Walkers nach Strich und Faden verwöhnt und genießt ihren Aufenthalt«, meinte er. »Und dass ihrer Mum nichts zugestoßen ist, weiß sie seit deinem Anruf heute früh. Ich vermute, sie ist recht guter Dinge.«

V
irginia nickte. »Ich hoffe, du hast Recht.« Sie presste ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Wie immer, wenn sie hierherkam, wurde sie von der Schönheit der Landschaft förmlich aufgesogen. Stets hatte sie das Gefühl, mit dem Wasser, dem Himmel, dem Licht verschmelzen zu müssen, weil sie anders nicht genug davon bekommen konnte. Selbst an diesem schon so herbstlich dunkel anmutenden Tag versagte das Land nicht seine Wirkung. Es war ein Nachhausekommen, es war die Rückkehr an einen Ort, von dem sie oft schon gedacht hatte, er müsse ihr seit vielen Leben vertraut sein.
»Meinst du, wir können jetzt die Brücke in Angriff nehmen?«, fragte Nathan.
Sie schüttelte den Kopf. Sie war es gewesen, die gebeten hatte, noch eine Weile am Festland zu warten, ehe sie hinüber nach Skye fuhren. Sie hatte keinen Grund genannt, aber zu spüren gemeint, dass Nathan verstand, was in ihr vorging. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Unwiderrufliches geschah, wenn sie die Insel betrat. Fast zwei Tage waren sie unterwegs gewesen, durch England und Schottland gefahren, und doch war es noch immer so, als könne sie jeden Moment umkehren. Zurück nach Ferndale, zurück in ihr altes Leben. Sie müsste eine Menge Erklärungen abgeben, sich von Frederic mit Fragen und Vorwürfen bombardieren lassen, vermutlich auch einer entrüsteten Grace und einem verständnislosen Jack irgendetwas erklären - aber sie hatte sich dennoch bislang nicht wirklich von ihnen allen entfernt. Frederic gegenüber würde sie das alles letztlich auf ihre Panik vor dem bevorstehenden wichtigen Abend zurückführen, und es würde ihr auch irgendein Brocken einfallen, den sie den Walkers hinwerfen konnte. Aber wenn sie das Festland verließ, wenn sie gemeinsam mit Nathan die Insel betrat, schnitt sie das Band durch. Nicht, was die anderen betraf, aber was sie selbst anging. Danach, das spürte sie, war eine einfache Rückkehr nicht mehr mög
lich.
»Ich kann noch nicht«, sagte sie.
»Okay«, erwiderte Nathan.
Sie mochte seine Art. Er schien immer sehr genau zu begreifen, wann sie keine Erklärungen abgeben wollte, und er nahm sich dann sofort zurück.
Und er konnte lange und schweigend zuhören. Fast die ganze Fahrt über hatte sie von Michael und Tommi erzählt. Er hatte sie kaum je unterbrochen, ihr mit gelegentlichen Einwürfen jedoch bewiesen, dass er nicht abgeschaltet hatte, sondern ihren Ausführungen sehr konzentriert folgte. Es war eigenartig gewesen, durch die einsame, manchmal sehr karge Landschaft zu fahren und die alten Geschichten auferstehen zu lassen, befreiend und zugleich traurig.
»TommiÉ hat den Unfall nicht überlebt?«, fragte Nathan. Wie so oft war sie über seine Intuition erstaunt. Auch sie hatte gerade an den kleinen Jungen gedacht.

N
ein. Das heißt, zunächst schon. Er lebte noch, als sie ihn ins Krankenhaus brachten. Aber er wachte nicht mehr aus dem Koma auf. Er hatte schwerste Kopfverletzungen davongetragen. Die Ärzte erklärten, er werde, selbst wenn er mit dem Leben davonkommen sollte, wohl für immer geschädigt bleiben. Also, sich nicht mehr normal entwickeln können, für immer auf dem geistigen Stand eines kleinen Kindes bleiben. Trotzdem hofften und beteten seine Eltern, er möge nicht sterben.«
»Das ist verständlich.«
»Aus der Sicht der Eltern - ja. Ich selbst war irgendwie zerrissen. Manchmal dachte ichÉ der Tod wäre besser für ihn.«
»Wie ging es Michael in jener Zeit?«
»Ganz furchtbar. An jenem Freitag, der dem schrecklichen Unglück vorausging, war er in Cambridge gewesen. Mit dem Auto. Ich nicht. Ich hatte daheim zuerst an einem Referat gearbeitet, mich später in die Gartenarbeit gestürzt. Michael hatte den Wagen am späten Nachmittag in unserer Auffahrt geparkt. Und offenbar nicht abgeschlossen. Er gab ausschließlich sich selbst die Schuld an dem Unfall, und natürlich kam er damit überhaupt nicht zurecht. Er ging jeden Tag zu Tommi ins Krankenhaus, wachte, weinte und betete an seinem Bett. Er schlief kaum noch und magerte ab.«
»Gabst auch du ihm die Schuld?«, fragte Nathan.

S
ie starrte an ihm vorbei in die Ferne. Gerade zerrte der Wind wieder eine große Lücke in die Wolken, und für Augenblicke wurde der Gipfel des Sgurr Alasdair, des höchsten Berges der Black Cuillins, sichtbar. Die Sonne strahlte ihn an, doch im nächsten Moment hüllten ihn die Wolken schon wieder ein, und er verschwand.
»Es war ein Unglück«, sagte sie, »ein tragisches Unglück. Ich glaube, dass niemanden die Schuld trifft.«
»Diese Sichtweise konntest du Michael aber wohl nicht vermitteln?«
»Nein. Wir redeten ständig und immer wieder über das alles, aber er blieb dabei, dass er praktisch ein Verbrechen begangen hätte. Und dann, am elften April, starb Tommi. Von da an wurde alles noch schlimmer.«
Sie musste an die Beerdigung des kleinen Jungen denken. Michael war wie erstarrt gewesen. Er hatte schlimmer ausgesehen als die verzweifelten Eltern. Totenblass und mit einem Ausdruck von tiefer Erschöpfung und Leere in den Augen.

M
ichael versuchte, irgendwie sein normales Leben weiterzuführen, aber das gelang ihm von Tag zu Tag schlechter. Zuerst dachte ich, nach einer gewissen Zeit würde er in den Alltag zurückfinden, aber schließlich gewann ich den Eindruck, dass ihn seine Kräfte und auch der Wille, das Geschehene hinter sich zu lassen, immer mehr verließen. An manchen Tagen ging er gar nicht mehr zur Arbeit, saß daheim im Wohnzimmer und starrte die Wände an. Er ließ sich nicht mehr im Fitnessstudio blicken, wohin er früher so gern gegangen war, er traf sich nicht mehr mit seinen Freunden. Sein Schuldgefühl erdrückte ihn ganz und gar. Es war, alsÉ ja, als wolle er auch nicht mehr leben, weil Tommi hatte sterben müssen. Ich weiß, dass er auch über Selbstmord nachdachte. Aber Michael ist nicht der Typ, der sich umbringt. Da fehlte es ihm an Entschlusskraft.«
»Vielleicht hättest du ihn auffangen können«, meinte Nathan, »wenn du ihn endlich geheiratet hättest. Es hätte ihn sicherlich stabilisiert.«
Sie nickte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.03.2007