28.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


3MichaelDer 25. März des Jahres 1995 war ein besonders warmer, sehr sonniger Frühlingstag. Ein Samstag. In Virginias Garten blühten Krokusse und Osterglocken, und über die Mauer am hinteren Garten schauten dicke, rosafarbene Zweige, die im warmen Wind leise wippten.
Michael war an diesem Morgen ziemlich verkatert, ein Zustand, der bei ihm höchst selten vorkam. Am Vorabend war er in seinem Fitnessstudio in St. Ives gewesen, und einer seiner Freunde dort hatte Geburtstag gehabt und etliche Runden in einer Kneipe ausgegeben. Michael, der mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war, sagte, es wundere ihn, dass er überhaupt noch in der Lage gewesen war, die Pedale zu bewegen.
»Ich wollte dich schon anrufen, dass du mich mit dem Auto abholst«, sagte er zu Virginia, »aber dann war mir das doch zu peinlich.«
Sie nickte abwesend. Wie üblich hörte sie ihm nur zerstreut zu. Manchmal stellte er für sie nicht mehr dar als ein beliebiges Hintergrundgeräusch.
»Ich glaube, ich brauche ein Aspirin«, sagte Michael und holte sich ein Glas Wasser und eine Tablette aus der Küche. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, ließ er sich in einen Sessel fallen, sah mit gefurchter Stirn zu, wie sich das Medikament langsam aufzulösen begann, und jammerte über seine Kopfschmerzen. Virginia wusste, dass man sich mit einem handfesten Kater wirklich scheußlich fühlen konnte, dennoch hatte sie nach kürzester Zeit das Gefühl, seinem Lamentieren nicht länger zuhören zu können. Seine ewigen Klagen zerrten an ihren Nerven. Das Wetter, die Arbeit, die Menschen ringsum - Michael fand einfach immer und überall ein Haar in der Suppe. Dann natürlich die Tatsache, dass sich Virginia seinen Heiratsabsichten verschloss und sich weigerte, schwanger zu werden. Wenn ihm gar nichts anderes einfiel, ging er in die Vergangenheit zurück und philosophierte in tragischen Tönen über das unverantwortliche Verhalten seines Vaters, die Scheidung seiner Eltern, die Depressionen und das elende Ende seiner Mutter.
»Ich glaube, du würdest durchdrehen, wenn du plötzlich keinen Grund mehr hättest, unter dem Leben zu leiden«, sagte Virginia manchmal zu ihm, und dann sah er sie verletzt und mit waidwundem Blick an.

H
eute jedoch sagte sie nichts. Sie verabschiedete sich möglichst rasch in den Garten und ließ Michael mit seinen Kopfschmerzen allein zurück. Es lag noch genug altes Laub vom Herbst auf dem Rasen, das dringend zusammengerecht werden musste. Virginia war froh, sich beschäftigen zu können.
Später, viel später, als sie und Michael wieder und wieder die Abläufe dieses Vormittags durchgingen und sich fragten, wie das Furchtbare hatte geschehen können, war es für sie vor allem so unerklärlich, wie sie Tommi nicht hatten bemerken können. Normalerweise rief und winkte er, wenn er das Grundstück betrat. Hatte er das diesmal nicht getan? Oder war sie so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht einmal eine Bombe bemerkt hätte, die neben ihr einschlug?
Michael hatte jedenfalls nichts merken können, denn er hatte sich schließlich auf dem Sofa im Wohnzimmer ausgestreckt und vor sich hin gedöst.

T
ommi musste gegen elf Uhr gekommen sein. Er hatte seiner Mutter Bescheid gesagt, und da diese wusste, dass er bei den Nachbarn ein gern gesehener Gast war, hatte sie ohne Bedenken zugestimmt. Ohne dass Michael und Virginia ihn wahrnahmen, musste er dann sofort versucht haben, in das am Steilhang geparkte Auto zu steigen, und es tatsächlich unverschlossen vorgefunden haben. Er hatte sich hinter das Steuer gesetzt und die Handbremse gelöst. Der Wagen war vermutlich sofort ins Rollen geraten.
Virginia, die ganz hinten im Garten gerade damit begonnen hatte, das zusammengerechte Laub in Plastiksäcke zu füllen, hörte die Geräusche von der Straße alle auf einmal, und es war wie eine unerwartete Detonation, die den Frieden des Morgens urplötzlich durchschnitt: quietschende Bremsen, schrilles Hupen, das heftige Krachen von Metall.
Sie richtete sich auf und dachte: Ein Unfall. Direkt vor unserem Haus!
Sie lief um das Haus herum und schaute den Abhang hinunter auf die Straße.

E
s war einer jener Momente, in denen sich das Gehirn nicht bereit zeigt, sofort alle Zusammenhänge zu begreifen, obwohl sie offensichtlich sind und nicht auf verschiedene Art interpretiert werden können. Virginia sah, dass ihr Auto nicht mehr in der Auffahrt parkte. Es war verschwunden. Völlig verloren lag die Fahrertür unten am Fuß des Steilhangs, direkt an dem dicken braunen Pfosten, der das Grundstück begrenzte und an dem sie offenbar hängen geblieben und abgerissen war. Auf der Straße standen kreuz und quer drei Autos, von denen nicht sofort klar war, inwieweit sie zusammengestoßen oder durch waghalsige Bremsmanöver in die bizarren Positionen geschlittert waren, in denen sie sich nun befanden.
Eines der Autos - diese Erkenntnis grub sich ganz langsam ihren Weg in Virginias betäubtes Gehirn - war ihres.
»Was ist passiert?« Michael tauchte neben ihr auf, mit wirren Haaren, weil er auf dem Sofa gelegen hatte, und mit bleichem Gesicht, weil ihn noch immer die Übelkeit quälte.

E
r starrte auf die Straße. »Da ist unser Auto!« Er schaute zur Seite, dorthin, wo der Wagen eigentlich hätte stehen müssen. »WasÉ wie kommt unser AutoÉ?« Er sah Virginia an, und gleichzeitig riefen beide: »Tommi!«
Nebeneinander rannten sie die Auffahrt hinunter. Virginia atmete vor Angst so verkrampft, dass sie, unten angekommen, keuchte und heftiges Seitenstechen spürte. Michael sah aus, als müsse er sich jeden Moment übergeben.
Sie sahen Tommi, der regungslos auf der Straße lag. Ein Mann, der aus einer Wunde am Kopf blutete, beugte sich über ihn und versuchte hektisch und ungeschickt, den Puls des Kindes zu ertasten. In einem schwarzen Rover, der mit der Nase zu Tommis Elternhaus gedreht stand, saß eine blonde Frau am Steuer und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf ihr Armaturenbrett, als gebe es dort etwas Faszinierendes zu sehen. Sie schien sich in einem Schockzustand zu befinden und sich nicht bewegen zu können.
Der Mann mit der Kopfwunde blickte auf. »Da ist noch ein Puls. Ich kann ihn spüren!«

V
irginia sank neben Tommi auf die Knie. Der Junge lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt, aber sie wagte nicht, ihn herumzudrehen, aus Angst, er könnte innere Verletzungen erlitten haben, die sie verschlimmerte, indem sie ihn bewegte.
»Tommi«, flüsterte sie, »Tommi!«
»Er schoss rückwärts aus der Einfahrt«, sagte der Mann, »ichÉ ich bremste wie verrückt, aberÉ es ging alles so schnellÉ«
Virginia fuhr Michael an: »Los, beeil dich! Ruf einen Krankenwagen! Ganz schnell!«
Der totenbleiche Michael setzte sich in Bewegung.
»IchÉ bin voll mit dem Wagen zusammengestoßen, und er ist rausgeschleudert worden«, sagte der Mann. Es schien ihm wichtig zu reden, obwohl Virginia dies alles im Moment nicht hören wollte. Sie wollte nur, dass Tommi sich umdrehte, sie wollte sein sommersprossiges Gesicht sehen, er sollte grinsen und alle seine Zahnlücken blecken und sagen: »Schöner Mist! Tut mir echt leid!«
Aber er rührte sich nicht.
Der Mann redete noch immer.
»Éund dann kam die Frau da in dem Rover. Die fuhr viel zu schnell. Das ist doch ein Wohngebiet hier. Die hatte vielleicht ein Tempo drauf! Und die hat ihn erfasst. Die hatte überhaupt keine Chance mehr zu bremsen, so wie die gerast istÉ«
»Tommi«, flüsterte Virginia, »Tommi, sag doch etwas!«
»Da liegt ja auch die Tür von dem Auto!«, sagte der Mann. »Der Junge hat die nicht richtig zugemacht. Deshalb ist er rausgeflogen! Sagen Sie, wie können Sie denn Ihrem Sohn erlauben, einfach so in Ihr Auto zu steigenÉ ich meine, in seinem AlterÉ«
Sie hatte keine Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich hatte er ebenso einen Schock wie die Frau im Rover. Aber während sie zur völligen Bewegungslosigkeit erstarrt war, schien er nicht aufhören zu können, zu reden.

S
ie nahm eine Bewegung im Garten von Tommis Eltern wahr. Tommis Mutter kam auf die Straße gestürzt. Sie schrie irgendetwas, aber Virginia konnte sie nicht verstehen. Michael tauchte soeben wieder neben ihr auf.
»Der Krankenwagen ist gleich da.« Er war so weiß im Gesicht, wie es Virginia noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Er schüttelte immer wieder den Kopf, fassungslos und beinahe ungläubig.
»Gott, großer Gott«, flüsterte er, »ich habe das Auto nicht abgeschlossen! Ich hätte schwören könnenÉ aber ich muss es vergessen haben! O Gott, wie konnte mir das passieren?«
Er starrte sie mit einem Ausdruck furchtbarster Verzweiflung in den Augen an.
Sie meinte, in diesem Moment beinahe zusehen zu können, wie etwas in seiner Seele zerbrach.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.02.2007