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Wo ist die wilde, starke Frau geblieben?«, fragte er leise. »Die Frau, die nichts tat, was sie nicht wollte?«
Sie weinte weiter. Es waren die Tränen von Jahren, die aus ihr herausströmten.
»Was möchtest du, Virginia? Wohin möchtest du gehen?«
Sie hatte darüber zuvor nicht nachgedacht. Es war nur plötzlich klar gewesen, wohin sie nicht gehen konnte. Nach London. In das Leben an Frederics Seite.
Sie hatte den Kopf gehoben. »Nach Skye«, sagte sie, »ich möchte nach Skye.«
»Okay«, sagte er ruhig, »dann lass uns aufbrechen.«
Vor lauter Erstaunen waren ihre Tränen versiegt. »Das geht doch nicht!«
»Und warum nicht?«, hatte er nur gefragt, und ihr war keine Antwort eingefallen.
»Für dich war es ja die perfekte Lösung aller Probleme«, sagte sie nun.

Noch immer war ihr nach Streit zumute. Daran mochten die Vorboten einer drohenden Migräne schuld sein und auch der Nebel, der wie eine Wand um sie herum waberte. Als wolle er in das Auto hineingekrochen kommen. »Ich meine, dass ich nicht nach London wollte.«
Er zuckte mit den Schultern. »Du lagst auf deinem Bett und weintest. Ich habe nichts dazu beigetragen.«
»Du hättest mir auch zureden können, mein Versprechen zu halten, das ich Frederic gegeben hatte.«
»He!« Er lachte leise. »Ich dachte, von dem Trip wärst du runter. Dass andere dir sagen, was du tun sollst. Du wolltest nach Skye, und nun fahren wir dorthin.«
»Gestern warst du dicht davor, von mir vor dem Krankenhaus, in dem Livia liegt, aus dem Auto gekippt zu werden. Du hättest nicht einmal gewusst, wo du die Nacht verbringen sollst.«
»Na ja, schlechter als jetzt hätte ich sie auch kaum verbracht.«
»Dann tut dir auch alles weh?«
»Klar. Ich bin außerdem ein ganzes Stück größer als du. Denkst du, für mich war es einfacher, meine Knochen zusammenzufalten?«
Urplötzlich verrauchte ihr Zorn.
»Ich müsste Kim anrufen«, sagte sie müde.
»Tu es.«

S
ie betrachtete das Handy vor ihr auf der Ablage. Es war ausgeschaltet. Sie konnte sich denken, dass Frederic sie seit dem gestrigen Nachmittag, seit der Ankunft des Zuges in London, im Minutentakt zu erreichen suchte. Sicherlich hatte er auch schon mit den Walkers gesprochen und auch mit Kim. Ihre Tochter wusste also, dass ihre Mutter verschwunden war.
»Was soll ich Kim denn sagen? Dass ich mit dir nach Skye fahre?«
»Das würde ich nicht sagen«, meinte Nathan, »denn dann macht sich dein Mann auf den Weg. Es sei denn, du möchtest das?«
»Nein.« Fröstelnd hob sie die Schultern. »Nein. Frederic kann ich wahrscheinlich sowieso nie wieder unter die Augen treten.«
Ihr wurde schlecht, wenn sie sich vorstellte, was er gerade über sie denken mochte.
Sie erreichten tatsächlich die Autobahn Richtung Glasgow und kamen endlich schneller voran. Der Nebel lichtete sich langsam ein wenig.
»Heute Abend sind wir auf Skye«, meinte Nathan.
Er hatte versprochen, bei der nächsten Raststätte anzuhalten. Virginia, die sich verzehrte bei der Vorstellung, Kim könnte voller Angst und Tränen rätseln, wo Mummie abgeblieben war, schaltete schließlich doch ihr Handy ein. Wie sie erwartet hatte, sprang ihr auf dem Display die Nachricht entgegen, dass sie vierundzwanzig unbeantwortete Anrufe bekommen hatte und ihre Mailbox abfragen sollte. Dies würde sie jedoch auf keinen Fall tun. Sie mochte nicht einmal Frederics Stimme hören.
Stattdessen wählte sie die Nummer der Walkers.
Grace meldete sich beim zweiten Klingeln. »Ja?«
»Grace? Hier ist Virginia Quentin. IchÉ«
Sie kam nicht weiter. Grace schnappte hörbar nach Luft und unterbrach sofort: »Mrs. Quentin! Meine Güte! Wir haben uns ja alle solche Sorgen gemacht! Wo sind Sie?«
»Das spielt jetzt keine Rolle. Ich möchte Kim sprechen. Ist sie da?«
»Ja, aberÉ«
»Ich möchte sie sprechen. Bitte sofort.«
»Mr. Quentin ist aus London gekommen«, sagte Grace, »er ist drüben im Haupthaus. Es geht ihm richtig schlecht. ErÉ«
Virginia legte eine Schärfe in ihre Stimme, die sie Grace gegenüber noch nie gezeigt hatte. »Ich möchte jetzt Kim sprechen. Nichts weiter.«
»Wie Sie wollen«, sagte Grace spitz. Gleich darauf erklang Kims Stimme. »Mummie! Wo bist du denn? Daddy ist hier. Er sucht dich.«
»Kim, Kleines, mir geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen, hörst du? Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur meine Pläne geändert.«
»Du willst nicht mehr zu Daddy nach London?«
»Nein. Es istÉ es ist etwas dazwischen gekommen. Ich bin woandershin gereist. Aber ich komme bald wieder zu dir.«
»Wann?«
»Bald.«
»Wenn am Montag die Schule anfängt, bist du dann da?«
»Ich versuche es, ja?«
»Kann ich so lange bei Grace und Jack bleiben?«
Virginia dankte dem Schicksal dafür, dass Kim die beiden älteren Leute so liebte. Sie hätte sonst sicher sehr viel heftiger und womöglich mit Tränen auf das seltsame Verhalten ihrer Mutter reagiert.
»Natürlich kannst du das. Aber du schaust auch mal nach Daddy, ja? Ich habe gehört, er ist da?«
»Ja. Er war heute ganz früh hier.«
»Okay, Kleines, sei brav und tu alles, was Grace und Jack sagen, ja? Und lauf nicht weit vom Haus weg, hörst du? Auch nicht im Park!«
Kim seufzte. »Das sagt Grace auch dauernd! Ich habÕs schon kapiert, Mummie. Ich bin wirklich kein Baby mehr!«
»Ich weiß. Und ich bin sehr stolz auf dich. Ich ruf dich wieder an, ja? Auf Wiedersehen, und ich liebe dich!«
Sie unterbrach die Verbindung sofort, um Grace nicht die Gelegenheit zu geben, sich den Hörer zu schnappen und weiterzulamentieren. Der Höflichkeit halber hätte sie ohnehin noch einmal mit ihr sprechen und sie fragen müssen, ob Kim länger als geplant bleiben durfte, aber sie mochte nicht riskieren, nach ihrem Aufenthaltsort ausgequetscht zu werden. Sollte Jack im Raum gewesen sein, hatte Grace ihn vermutlich ohnehin schon losgejagt, Frederic so rasch wie möglich herüberzuholen, und hätte dann versucht, Virginia auf irgendeine Weise am Apparat zu halten. Dieser Gefahr mochte sie sich nicht aussetzen. Sie wollte auf gar keinen Fall mit Frederic sprechen.
»Fühlst du dich besser?«, fragte Nathan.
Sie nickte. »Ja. Wenigstens nicht mehr ganz so schäbig wie zuvor. ObwohlÉ Frederic ist nach Hause gekommen. Er muss ziemlich aufgelöst sein.«
»Das war zu erwarten«, sagte Nathan nur. Er wies nach vorn. »Eine Raststätte. Nun bekommst du endlich deinen Kaffee.«

2
Nach zwei Bechern heißen, starken Kaffees und einer großen Portion Rührei mit Toastbrot fühlte sich Virginia um Lichtjahre besser. Die Raststätte war sauber, gepflegt, freundlich und warm. Die Waschräume rochen nach einem starken Desinfektionsmittel und wurden offensichtlich regelmäßig geputzt. Virginia war dort ganz allein, konnte sich Gesicht und Hände waschen, ihre völlig verwirrten Haare bürsten, etwas Lippenstift auftragen. Sie war sofort in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, als sie zu Nathan in den Gastraum zurückkehrte. Es war nichts los an diesem düsteren Morgen, der eher an einen Novembertag erinnerte als an den ersten September. Außer ihnen saß nur noch ein einziger Mann an einem der Tische und las Zeitung. Leise Musik dudelte im Hintergrund. Es war angenehm, in den bequemen Stühlen zu sitzen, die Beine weit auszustrecken, den heißen Keramikbecher zwischen den kalten Fingern zu spüren. Virginias Lebensgeister regten sich wieder, und langsam kehrte das Gefühl vom vergangenen Abend zurück: ein Gefühl von Freiheit, von Abenteuer, von Leichtigkeit.
Sie merkte, dass sie zu lächeln begann.
Nathan zog die Augenbrauen hoch. »Was geht in dir vor?«, fragte er. »Du siehst ein bisschen wie eine Katze aus, die schnurrt.«
»Ich sollte mich schämen«, sagte Virginia, »ich habe meinen Mann versetzt, bin einfach weggelaufen, habe ihn in größte Sorgen gestürztÉ und fühle mich gut. Ja«, sie hielt einen Moment inne, als lausche sie in sich hinein, »ich fühle mich wirklich gut. Findest du das bedenklich?«
Statt einer Antwort fragte er zurück: »Und was ist dieses gute Gefühl? Wie würdest du es definieren?«
Sie brauchte nicht zu überlegen. »Freiheit. Es ist Freiheit. Sie ist ganz tief in mir, und sie bricht sich ihren Weg nach draußen. Ich weiß, dass ich mich völlig rücksichtslos verhalte, aber ich könnte jetzt nicht umkehren. Um keinen Preis.«
»Dann kehre auch nicht um«, sagte er.
Sie nickte. Sie sah ihn über den Rand ihres Kaffeebechers an. Sie wusste, dass ihre Augen zu glitzern begonnen hatten. Draußen fing es an zu regnen.
»Es ist fast wieÉ«, begann sie und hielt dann inne.
»Fast wie was?«, fragte Nathan.
Sie stellte den Becher ab, atmete tief. »Fast so, wie es war, bevor Tommi starb«, sagte sie.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.02.2007