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Um im Auto zu übernachten, hatte sie gedacht, bin ich offenbar schon zu alt.
Sie hatte die Tür aufgestoßen, hatte sich zu Boden gleiten lassen, sich mühsam aus Jeans und Slip geschält und einfach in das nasse Heidekraut unter ihren Füßen gepinkelt. Es war dunkel, und ohnehin war weit und breit kein Mensch. Sie befanden sich am Rand einer einsamen Landstraße, die sich durch den Norden Englands schlängelte, ein Stück bereits hinter Newcastle. Es konnte nicht mehr weit sein bis zur schottischen Grenze. Aber irgendwann am gestrigen Abend waren sie einfach zu erschöpft gewesen, um weiterzufahren. Virginia hätte sich gern ein Bed & Breakfast gesucht, um dort die Nacht zu verbringen, aber Nathan hatte gemeint, man könne genauso gut im Wagen schlafen. Sie vermutete, dass er es als peinlich empfunden hätte, auch die Übernachtung von ihr bezahlen zu lassen. Sie hatte an den Tankstellen bezahlt und war auch für das Abendessen aufgekommen, das sie in einem kleinen Gemischtwarenladen erstanden hatten, auf den sie in einem winzigen Dorf gestoßen waren.

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ie hatten fast nicht zu hoffen gewagt, an einem Ort in der Mitte von Nirgendwo etwas Essbares zu finden, doch dann hatte es dort erstaunlich gute Sandwiches gegeben. Sie tranken Mineralwasser dazu, genossen die Stille und Einsamkeit um sich herum, die nur von ein paar sich neugierig nähernden Schafen gestört wurde. Es war deutlich kühler als in Norfolk. Virginia hatte einen dicken Pullover aus ihrem Koffer gekramt, sich auf die Kühlerhaube des Autos gesetzt, ihr Sandwich gekaut und ihren Blick über die Weite gleiten lassen, an deren Ende die geballten grauen Wolken mit den matten Farben dieser nordischen, bereits sehr herbstlich anmutenden Landschaft verschmolzen. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie von einem schon lange nicht mehr gekannten Gefühl des Friedens erfüllt gewesen, von einer sie bis in alle Winkel ihres Körpers und ihrer Seele durchströmenden Freiheit und Einheit mit sich selbst. Sie atmete tief die frische, klare Luft und empfand die Momente, in denen sich die Dunkelheit um sie herum auszubreiten begann, das Auflösen des Tageslichts in der Nacht, als magisch. Sie hatte früher manchmal Stunden wie diese gekannt, sie jedoch über all die Jahre inzwischen vergessen: Stunden, in denen sie aus der Zeit herausgelöst schien und nichts anderes war als ein Teil der Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Das Aufgehen im Jetzt. Sie erinnerte sich an die Erfahrungen, die sie in ihrer Studentenzeit mit dem Konsum von Haschisch gemacht hatte. Das Berückende war genau dieses Erleben gewesen, dieses Verschmelzen mit dem Augenblick. Nun gelang ihr das ohne Rauschmittel. Es reichten das seltsame, verhaltene Licht und der vollkommene Frieden um sie herum.

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athan hatte sie allein gelassen, war ein Stück gelaufen, um seine steifen Knochen zu bewegen. Als sie ihn eine Stunde später durch die Dämmerung wieder auf sich hatte zukommen sehen, war ihr schlagartig noch etwas anderes eingefallen, und schon hatte sich der Zauber gelöst. Ihr war eingefallen, welche Wirkung das Haschisch außerdem auf sie gehabt hatte: Es hatte sie extrem sexualisiert. Partys, auf denen Joints oder reichlich mit Drogen versetzte Kekse herumgereicht worden waren, hatten häufig in sexuellen Orgien geendet. Virginia erinnerte sich dunkel an weit mehr als schnellen, flüchtigen Sex mit irgendeinem namenlosen Mann, der auf diese Weise zustande gekommen war. Sie war einfach gierig gewesen. Und alle Hemmungen hatten sich in Luft aufgelöst.
Nathan war vor ihr stehen geblieben, er hatte nach der schon etwas feuchten Abendluft gerochen, und auf seinem Gesicht lagen die ersten Schatten der Dunkelheit, und sie hatte gedacht: Das gibt es nicht, diesmal sind garantiert keine Drogen im Spiel!
Aber sie hätte ihn genau in dieser Sekunde haben wollen. Auf der Kühlerhaube des Wagens oder drinnen auf dem Rücksitz oder direkt auf dem sandigen Boden zu ihren Füßen. Es wäre ihr gleich gewesen. Wenn es nur sofort und schnell und wild gewesen wäre. Ohne ein Vorher oder Nachher. Einfach nur Sex.
Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin so verrückt wie nach einem halben Dutzend Joints!

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ie meinte zu erkennen, dass er wusste, was in ihr vorging, denn er hatte auf seltsame Art gelächelt und sie abwartend angeschaut. Sein Blick sagte ihr, dass er bereit war, ihr jedoch allein die Entscheidung überließ. Und es erfüllte sie mit Bedauern, später mit Erleichterung, dass dann doch etwas anders gewesen war als früher. Ihre Hemmungen existierten noch, jedenfalls zum Teil. Ausreichend genug, sie rasch von der Kühlerhaube rutschen und mit kühler Stimme sagen zu lassen: »Wir sollten vielleicht noch ein Stück weiterfahren, ehe es richtig Nacht wird.«
»Okay«, hatte er leise zugestimmt.
Jetzt, an diesem nebligen Morgen, waren alle Gefühle dieser Art verschwunden. Virginia hätte heulen mögen. Sie empfand die Schmerzen in ihrem Nacken als unerträglich. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, nach ihrer Zahnbürste, nach duftendem Shampoo in ihren Haaren, nach der warmen Luft und dem beruhigenden Brummen ihres Föns. Und dann, irgendwann, mehr als nach allem anderen nach einer Tasse heißen Kaffee.

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ie musterte Nathan von der Seite. Wenn ihm das verkrampfte Schlafen ebenfalls in den Knochen steckte, so merkte man ihm das zumindest nicht an. Er sah eigentlich nicht anders aus als am Abend zuvor. Nicht einmal müde. Er blickte konzentriert geradeaus, orientierte sich im dichten Nebel an dem Grasstreifen links des Straßenrandes. Dieses schmale, nasse Asphaltband, das sich durch die gottverlassene Heide- und Moorlandschaft schlängelteƉ Wo, zum Teufel, sollte sie hier einen Kaffee herbekommen?
»Ich brauche irgendetwas zum Essen und zum Trinken«, sagte sie schließlich. »Mir ist kalt, und mir tut jeder Knochen weh. Ich schwöre dir, dass ich nicht eine einzige Nacht mehr in diesem Auto schlafe!«
Er wandte den Blick nicht von der Straße. »Wir verlassen jetzt bald diese Landstraße und kommen auf eine Autobahn. Dort finden wir sicher eine Möglichkeit, etwas zu frühstücken.«
Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so aggressiv war. »Ach? Und du kennst dich hier so toll aus, dass du das genau weißt?«
»Ich habe mir die Karte angesehen, ehe wir losfuhren.« »Hoffentlich hast du sie richtig gelesen. Mir sieht es hier nämlich nicht nach Autobahn aus. Ich habe eher den Eindruck, wir landen demnächst in irgendeinem Sumpf oder auf einer Schafweide!«
Endlich wandte er den Kopf und sah sie an. »Du kannst ja richtig zickig sein«, sagte er, »was ist los mit dir?«
Sie rieb sich den Nacken. »Ich bin völlig verspannt. Mir tut alles weh. Wenn ich nicht bald einen Kaffee bekomme, werde ich schreckliche Kopfschmerzen haben.«
»Du kriegst bald einen Kaffee«, sagte er.
Sie presste beide Handflächen gegen die Schläfen. »Mir geht es nicht gut, Nathan. Ich weiß auf einmal nicht mehr, ob es richtig ist, was ich hier tue.«
»Wußtest du jemals, ob es richtig ist? Gestern hatte ich den Eindruck, es ginge für den Moment nur darum, dich in Sicherheit zu bringen. Dich zu retten. Du warst kurz vorm Durchdrehen.«
»Ja«, sie starrte aus dem Seitenfenster in den Nebel hinaus, »ja, das war ich wohl.«

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ie sah sich wieder auf ihrem Bett im Schlafzimmer liegen, daheim in Ferndale. Unter sich begraben das neue Kleid, das sie gerade hatte zusammenlegen und in den Koffer packen wollen. Sie hatte alles getan, was sie sich vorgenommen hatte: die Zugkarte gekauft, Frederic die Zeiten durchgegeben. Kims Sachen gepackt, die Kleine bei den Walkers abgeliefert. Ihren Koffer hinter dem Schrank hervorgezogen, Unterwäsche, Strümpfe und Schuhe hineingelegt. Zuletzt hatte sie das neue Kleid vom Bügel gezogen und kurz überlegt, dass sie es besser in einem Kleidersack transportieren sollte, um es nicht zu zerknittern. Doch dann hatte sie gedacht, es sei einfacher, nur einen einzigen Koffer mit sich zu führen, und sicher konnte sie das Kleid in der Londoner Wohnung noch rasch bügeln. Sie breitete es auf dem Bett aus, faltete die Ärmel - und konnte plötzlich nicht weitermachen. Sie starrte auf das Kleid und wusste, sie würde es nicht schaffen, es in diesen Koffer zu packen. Es würde ihr nicht gelingen, in den Zug nach London zu steigen. Sie konnte einfach nicht als die perfekte Gattin eines aufstrebenden Politikers zu dieser Party gehen.
Als Nathan schließlich nach ihr sah, lag sie auf dem Bett, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie schluchzte nicht, es waren sehr stille Tränen, die jedoch unaufhörlich flossen.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie, »ich kann nicht. Ich kann nicht.«

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ndeutlich erinnerte sie sich jetzt, dass er sie hochgezogen und in die Arme genommen hatte. Es war schön gewesen, den Kopf an seine Schulter zu legen. Aber zugleich hatte sie heftiger zu weinen begonnen.
»Ich kann nicht«, hatte sie wiederholt, »ich kann nicht.«
Seine Stimme war dicht an ihrem Ohr gewesen. »Dann tu es nicht. Hörst du? Dann tu es nicht!«
Sie konnte nichts erwidern. Sie konnte nur weinen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.02.2007