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Abseits - aber Nabel der Welt
Die Osterinsel im Pazifik, ein gut 160 Quadratmeter großer vulkanischer Felsen, ist bis heute geheimnisumwittert
Das Thermometer bewegt sich das ganze Jahr über um die 21-Grad-Marke. Das beschert subtropisches Klima - bei ziemlichem Wind allerdings. Denn rund um das 24 Kilometer lange und in der größten Ausdehnung zwölf Kilometer breite Stück Land von Dreiecksform gibt's nur Wasser. Viel Wasser.
Der von immerhin 3800 Menschen besiedelte Ort ist so weit entfernt von anderen menschlichen Zivilisationen wie kein anderer sonst auf der Erde. Wie er heißt? Osterinsel.
Chile, das Mutterland im Osten, ist 3800 Kilometer entfernt, Tahiti im Westen 4000. Auf halber Strecke zwischen Osterinsel und dem polynesischen Inselstaat gibt's noch die britische Kronkolonie Pitcairn. Die aber nicht als erste Adresse gilt: Hier landeten 1789 die Meuterer der Bounty...
Wie bei so vielen Entdeckungen des 17. und 18. Jahrhunderts gaben die christlichen Seefahrer jenen Flecken, die noch keiner vor ihnen auf einer Karte vermerkt hatte, einen gottgefälligen Namen. Und was lag da für den niederländischen Forscher Jacob Roggeveen am Ostersonntag des Jahres 1722 näher, als den aus den unendlichen pazifischen Wasserwüsten aufsteigenden Felsen nach dem Tag der Wiederauferstehung Jesu von den Toten zu nennen? Vermutlich war er da aber noch nicht jener riesigen und auf keinen Fall christlichen Steinköpfe angesichtig geworden, die überall auf der Insel von einer großen Kultur künden und bis heute zu den Rätseln dieser Welt zählen.
Die Moai benannten Kopffüßler, vermutlich zwischen 1300 und 1700 errichtet, sind vier bis gigantische 20 Meter hoch und bis zu 50 Tonnen schwer. Heute sorgen sie dafür, dass immer mehr Besucher auf das gut 160 Quadratmeter große Eiland kommen, dessen Geheimnissen sich Kevin Costners Filmsaga »Rapa Nui« - so heißt die Insel unter den gleichnamigen Einheimischen - 1994 zu nähern suchte.
Der große Pazifik-Erkunder Captain James Cook unterdessen fand nicht besonders beachtenswert, was er dort bei einem fünftägigen Besuch vom 13. bis 17. März 1774 vorfand: »Keine Nation wird je für die Ehre kämpfen, die Osterinsel erforscht zu haben, zumal es kaum eine andere Insel im Meer gibt, welche weniger Erfrischungen bietet und Annehmlichkeiten für die Schifffahrt wie diese«, sprach er geringschätzig. Auch große Menschen können sich eben mal in Kleinigkeiten täuschen.
Wie aber kamen überhaupt Menschen auf den vulkanischen Felsen im Meer, der sich bis zu 500 Meter hoch aus den Wellen erhebt und dessen Sockel steil bis in 3000 Meter Meerestiefe abfällt?
Der norwegische Forscher Thor Heyerdahl (1914 - 2002) unternahm 1955/56 eine archäologische Expedition auf die Insel. Er nahm an, dass es mindestens zwei Einwanderungswellen gab: eine erste kleinere aus Südamerika und eine zweite größere aus Polynesien. Diese Theorie stützte er unter anderem darauf, dass das Schilf, das man am Titicacasee im heutigen Peru für die Boote verwendete Scirpus totora, identisch ist mit dem Schilf, das das Osterinselvolk im Kratersee anpflanzte.
Auch war das wichtigste Lebensmittel der Osterinsel die Süßkartoffel, von den Insulanern Kumara genannt. Botaniker haben bewiesen, dass die Pflanze südamerikanischer Herkunft ist. Und selbst der Name Kumara wurde auch von den Indianern Perus verwendet. Zudem ist belegt, dass der spanische Kapitän de Cadres bereits im 16. Jahrhundert von einem Indianer die genaue Segelanweisung zu der Osterinsel bekam.
So bestehen zwar keine Zweifel an südamerikanisch-indianischen Kontakten zum weit entfernten Eiland. Neuere archäologische, genetische und sprachwissenschaftliche Erkenntnisse haben jedoch die Theorie der erstmaligen Besiedelung von Südamerika aus widerlegt. Demnach kamen die Erstbesiedler aus dem Westen, von Mangareva oder den Marquesasinseln im Südpazifik. Um 900 n. Chr. soll die erste Einwandererwelle das dreieckige Stück Land im Meer bezwungen haben - der Zeitpunkt ist jedoch umstritten.
Ein Rätsel ist bis heute auch, warum, vermutlich im frühen 14. Jahrhundert, die einst dichten Palmwälder verschwanden und in der Folge der fruchtbare Boden vom steten Passatwind fortgeweht wurde: Weil die Hölzer gerodet wurden, um auf ihnen die riesigen Kult-Steinfiguren an ihre Standorte zu rollen, glauben die einen. Weil eine langjährige Dürre, zusammenhängend mit der Kleinen Eiszeit, und die von den ersten Siedlern eingeschleppte Polynesische Ratte das fragile ökologische Gleichgewicht gestört haben, sagen die anderen.
Die Öko-Katastrophe und damit einhergehender Nahrungsmangel, kriegerische Auseinandersetzungen, (eingeschleppte) Krankheiten, Deportation zur Zwangsarbeit in Peru und schließlich Auswanderung führten dazu, dass die Inselbevölkerung von etwa 10 000 zur Zeit der Kulturblüte um 1600 auf gerade noch 111 Insulaner im Jahr 1877 kollabierte.
1888 annektierte Chile die Insel, die zeitweise der intensiven Schafzucht diente, 1930 gar zur Leprakolonie erklärt wurde. Die Einheimischen unterstanden einem strengen Militärgouvernment, das ihnen nur ein kleines Reservat an der Westküste zugestand.
Erst der deutschstämmige Kapuzinerpater Sebastian Englert brachte den Rapa Nui menschlich wie wissenschaftlich Interesse entgegen. 1935 kam er im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universidad de Chile auf die Insel - und blieb als Seelsorger bis zu seinem Tod 1969. Englert kümmerte sich um soziale Belange, Gesundheitsvorsorge und Bildung der Einheimischen, erforschte die Osterinsel gleichzeitig in allen Belangen. Seine Sammlungen und Arbeiten bilden heute den Grundstock des nach ihm benannten Museums in der Hauptstadt Hanga Roa. Pater Englert nummerierte und katalogisierte auch 638 der Moai-Statuen, von denen es ursprünglich wohl mehr als 1000 gab.
Langsam ging es unterdessen auch mit der Bevölkerung wieder voran: 1000 Einwohner im Jahr 1960, 1900 im Jahr 1988. Insbesondere die Zuwanderung aus Chile hat seitdem für Wachstum gesorgt - allerdings zulasten der polynesischen Ureinwohner, deren Bevölkerungsanteil zwischen 1982 und 2002 von 70 auf 60 Prozent sank. Wer Freiraum sucht, kann ihn aber immer noch finden: 23 Insulaner müssen sich einen Quadratkilometer teilen - in Deutschland sind es 230.
Heute legen gern auch Kreuzfahrtschiffe einen Stopp an dem wildromantischen Eiland ein. Per Flugzeug ist die Osterinsel mehrmals wöchentlich - und keinesfalls nur zu Ostern - zu erreichen. Und selbst Raumfahrer wären in der Lage, hier zu landen: Die Nasa verlängerte den Flughafen Mataveri in den späten 1970er-Jahren auf die Länge, dass im Notfall auch mal eine aus der Richtung geratene Raumfähre dort gefahrlos ausrollen könnte.
Seit 1995 zählt der Nationalpark Rapa Nui zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und obwohl es noch keine Besuchermassen sind, die sich hier bewegen, so ist der Tourismus doch schon die Haupteinnahmequelle.
Den übergroßen Steinköpfen, von den Ahnen geschaffen, haben die heutigen Oster-Insulaner das zu verdanken. Und irgendwie sind sie damit auch das, wofür sie ihre Insel schon immer gehalten haben: »Te Pito o Te Henua«, was soviel heißt wie Nabel der Welt.
Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 06.04.2007