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». . . als ob der Jüngste
Tag kommen würde«

Historische Notizen zum Turm von Altstadt Nicolai

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Der heilige Nikolaus ist der Schutzpatron der Kaufleute - so gesehen liegt es nahe, den projektierten Glasfahrstuhl an der Altstädter Nicolaikirche als finanzielle Investition zu verkaufen. Ob sich's rentiert, weiß ohnehin nur der Nikolaus vorherzusagen. Der Turm aber, der Turm hat schon ganz andere Dinge mitgemacht.

»Anno 1236 ist die Kirche St. Niclaus uff der Alten Statt Bilefelt affgesondert van der Kirche zue Heepen, mit Vullbort des Hochwürdigen in Gott, Bischoff Bernhardt zu Paderborn«, heißt es in einer alten Quelle über die Lösung der Altstädter Gemeinde aus dem Kirchspiel Heepen. Im frühen Bielefeld (um 1214 gegründet) besuchten die Gläubigen eine kleine Kapelle - und die hatte gewiss keinen Turm.
Ein Jahrhundert später, die Ansprüche waren höher, ist ein steinerner Bau bereits Gegenstand materieller Transaktionen: Aus dem Jahr 1317 hat sich eine Ablassurkunde für die Wohltäter (Geldgeber) der neuen, der ersten »richtigen« Nicolaikirche erhalten. Wie sie aussah, liegt im Dunkeln, es sei denn, man vertraut auf eine Zeichnung (um 1700), die einen zweifach gewölbten Turm zeigt.
Der Bielefelder Historiker Harald Propach, bis 1996 Kirchmeister in Altstadt Nicolai, der ein Buch mit dem Titel »Die Glocken von Bielefeld« vorbereitet, hält die Darstellung für glaubhaft. Zum Beweis führt er einen Handwerkerauftrag von 1599 an, demzufolge ein Osnabrücker Meister den »altersteder thurm und spitz unden am Knopf und sonst allenthalben, da dieselb locherich und lecket, zu besseren« aufgefordert wird. »Unden am Knopf« liest Propach als »unteren von zweien«; der Turm soll übrigens 250 Fuß, also 77,5 Meter (heute: 82 Meter) hoch gewesen sein.
Zu hoch. Am 25. Juli 1706, »mitten unter der Nachmittagspredigt, entstand gantz plötzlich ein starkes Ungewitter, so daß nicht anders vermeinet, als ob der Jüngste Tag kommen würde«, notierte schreckensbleich Pfarrer Johann Christoph Engelbrecht. Der Turm wurde »verweht« (Propach) »un den gantzen Kirchdach überall zerschmettert« (Engelbrecht).
33 Jahre später erst hatten die Bielefelder ihrer Altstadtkirche einen Helm aufgesetzt. Einen barocken Turmhelm - den gewandelten Zeitgeist scherte es wenig, dass längst dahingeschiedene Generationen das Kirchenschiff in gotischem Stil erbaut hatten. »Den Geist der Gotik, der einst den Bau gestaltete, können wir heute nicht künstlich wieder zum Leben erwecken. Wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen, dann können wir nur schaffen und bauen aus dem Geist unserer Zeit.«
Eine Ansicht, die den Geist von 1739 atmet. Sie wurde 1954 geäußert . . .
Und schon nahte das nächste Unglück: 1880, Blitzschlag mit Brand im Kirchturm. Kantor Karl Grovemeyer gab drei Jahre später eine hochdramatische Reportage über die Löscharbeiten heraus. Vor allem aber spricht der brave Mann erstmal über die Wirkung von Glas am (Sandstein-)Bau, schwärmte von »echtem Kathedralglas in glühenden Farben, die auch bei den schärfsten Sonnenstrahlen dem Auge erquicklich sind. Gewiss, er meinte die vordem »blinde« Rosette an der Südseite.
Die Berichte über die Katastrophe des 30. September 1944, als die gesamte Innenstadt in Schutt und Asche sank, sind Legion. An die Entwürfe zum Wiederaufbau knüpfte das Presbyterium nur zwei Bedingungen: wirkungsvolle Präsentation des Schnitzaltars und Platz für 1000 Gläubige. 1000 auf einen Streich! Sagenhaft.
Von 1952 bis 1954 wurde gebaut, und am Ende sah Altstadt Nicolai wieder wie eine Kapelle aus, eine überdimensionierte zwar, aber der Turm fehlte ja noch. Der würde nicht auf ewig Zukunftsmusik bleiben, hoffte Kirchmeister Dr. Georg Kisker, sondern »ein Bauwerk, das nicht das zerstörte wiederholt, aber doch wieder in Form und Geist ein echtes Wahrzeichen der Stadt wird.«
»Ein unwiderstehliches Verlangen nach Höhenluft drückt mir die Türklinke der Kirchentür in die Hand«, dichtete ein Poet aus der Zeitungsredaktion bereits 1949, und 1960/62 erhielt die Lyrik ein prosaisches Fundament: Der neue Turm wurde errichtet, wegen der »Hochhäuser« ringsum mit 82 Metern etwa 13 Meter höher als zuvor. Der Landesvater forderte, die Spitze müsse sich vom altehrwürdigen Turmstumpf architektonisch klar abheben, und das tut er ja denn auch bis auf den heutigen Tag.
Anfang 1962, da war der Turm noch eingerüstet, stellte sich ein Fotograf in die schmale Piggenstraße und blickte durch den Sucher hinüber. Er fand, die Szene strahle »beschauliche Ruhe aus. Abgesehen von ein paar (haltenden) Kraftwagen ist wenig von der Hetze einer modernen Großstadt zu bemerken, dafür glaubt man um so mehr Idylle zu spüren, die in Wirklichkeit aber längst Einbußen erlitten hat.«
Ob die Idylle weitere Einbußen verträgt?

Artikel vom 14.02.2007