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Es roch so warm und so tröstlich.
»Wo bist du nur?«, murmelte er. »Wo bist du denn nur?«
Er schaltete die Lichter ein, ging in die Küche. Der Wasserhahn an der Spüle tropfte ein wenig, geistesabwesend drehte er ihn fester zu. Die Küche war sauber aufgeräumt, alle Arbeitsflächen und auch der Esstisch ordentlich gewischt. Die Pflanzen am Fenster - hauptsächlich Kräuter - hatten frisches Wasser bekommen; er sah, dass die Teller unter den Töpfen randvoll mit Wasser waren.
Er ging ins Wohnzimmer hinüber, nahm ein Glas aus dem Schrank und die Whiskyflasche von der Bar und schenkte sich einen doppelten Chevas ein. Trank ihn in einem Zug. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, für einen Moment breitete sich eine Hitze in seinem Magen aus, die er als angenehm empfand. Er schenkte sich noch einmal ein. Für gewöhnlich löste er seine Probleme nicht mit Alkohol, aber im Augenblick hatte er das Gefühl, etwas zu brauchen, um nicht völlig durchzudrehen.

D
as Glas in der Hand, streifte er durch das Haus. Es war alles wie immer, nirgendwo der kleinste Hinweis, was mit Virginia passiert sein konnte. Im Schlafzimmer waren die Betten gemacht. Er öffnete den Kleiderschrank, aber er hatte zu wenig Überblick über die Sachen seiner Frau, als dass er hätte sagen können, ob etwas fehlte und was es war. Ihm fiel nur auf, dass der kleine rote Reisekoffer, der immer zwischen Schrank und Wand stand, verschwunden war. Sie hatte gepackt. Sie hatte mit einem Koffer dieses Haus verlassen.
Nach einigem Zögern betrat er auch das Gästezimmer. Hier musste Nathan Moor gewohnt haben.
Aber auch das Zimmer gab keinen Aufschluss. Das Bett war gemacht, der Schrank leer. Es gab nichts, was auf Moors Anwesenheit hinwies.
Und selbst wenn ich eine alte Socke von ihm gefunden hätte, dachte Frederic müde, hätte mich das auch um keinen Schritt weitergebracht.
Er verließ das Zimmer wieder, ging ins Schlafzimmer hinüber, zog sich mit langsamen Bewegungen aus. In der Spiegeltür des Schranks sah er einen müden Mann, der grau und ausgebrannt wirkte. In seinen Augen standen Furcht und Verwirrung. Es war ein Gesichtsausdruck, den er von sich nicht kannte. Weder furchtsam noch verwirrt zeigte er sich jemals, auch waren dies keine Gefühle, die für gewöhnlich sein Innenleben beherrschten. Aber in eine derartige Situation war er auch noch nie geraten. Noch nie hatte ihm etwas derart die Kehle zugeschnürt wie Virginias Verschwinden. Noch nie hatte ihn etwas derart aus der Ruhe gebracht.

E
r schlüpfte in seinen dunkelblauen Bademantel. Unmöglich, sich ins Bett zu legen und zu schlafen, er würde kein Auge zutun. So früh wie möglich wollte er Livia Moor aufsuchen. Zuvor musste er seine Sekretärin in London anrufen; es waren für den Vormittag etliche Termine abzusagen, einige würden auch von seinen Mitarbeitern wahrgenommen werden können. Was aus dem wichtigen Abendessen werden sollte, das womöglich der Ausgangspunkt für die beunruhigenden Ereignisse gewesen war, wusste er nicht. Ihm bliebe natürlich die Zeit, am Nachmittag nach London zu fahren und an der Einladung teilzunehmen, Virginia mit irgendeiner Ausrede zu entschuldigen. Aber würde ihm das möglich sein, wenn er bis dahin noch immer nichts über ihren Verbleib wusste? Er konnte es sich nicht vorstellen.
Ruhelos wanderte er wieder ins Wohnzimmer hinunter, schaltete die kleinen Lampen am Fenster ein. Auf dem Sofa lagen ein paar Zeitungen der letzten Tage. Ganz oben die von gestern. Er griff danach. Die Morde an den zwei kleinen Mädchen beherrschten die Schlagzeilen auf der ersten Seiten. Was gedenkt die Polizei zu tun?, wurde gefragt, und im Nachfolgenden mutmaßte der Verfasser des Artikels, dass es sich bei beiden Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach um denselben Täter handelte. Beide Kinder, die vierjährige Sarah Alby und die achtjährige Rachel Cunningham, stammten aus KingĂ•s Lynn. Beide waren am helllichten Tag verschwunden, ohne dass offenbar irgendjemand etwas bemerkt hatte. Beide waren sexuell missbraucht und anschließend erdrosselt worden. Beide hatte man an abgelegenen, aber mit einem Auto gut erreichbaren Orten gefunden. Die Bevölkerung sei zutiefst beunruhigt, hieß es, Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr allein auf der Straße spielen, und es hätten sich bereits Fahrgemeinschaften gebildet, die sicherstellten, dass Kinder auf dem Schulweg keinen Schritt mehr ohne Aufsicht taten. Allgemein wurde der Ruf nach einer SoKo laut, die sich mit konzentriertester Kraft der Aufklärung dieser beiden entsetzlichen Verbrechen widmen sollte. Frederic wusste, dass Sonderkommissionen den ohnehin knappen Polizeietat erheblich belasteten, aber auch er fand, dass man in diesem Fall nicht länger zögern durfte. Er war Politiker genug, um auf Anhieb zu erkennen, wie sehr sich dieses brisante, hoch emotionale Thema für den Wahlkampf eignete.

N
ur dass er im Augenblick ganz andere, eigene Sorgen hatte. Um sich abzulenken, vertiefte er sich in die Zeitungen, las sie von der ersten bis zur letzten Seite, selbst den Sportteil, der ihn gewöhnlich nicht besonders interessierte. Als allererstes graues Tageslicht zwischen den Vorhängen hindurch ins Zimmer sickerte, sank sein Kopf zurück auf die Sofalehne, und er schlief zutiefst erschöpft ein.

2
Ihr Gedächtnis war jetzt wieder klar und hellwach, aber Livia wusste nicht, ob sie diesen Umstand begrüßen sollte. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, sich nicht so genau zu erinnern. Immer wieder stand ihr die Szene vor Augen, als Nathan sie über die Reling der Dandelion gestoßen hatte: über ihr der dunkle Nachthimmel, unter ihr die schwarzen Wellen des Meeres. Nathan, der brüllte: »Runter vom Schiff! Spring!«
Sie hatte das Gefühl gehabt, in den Tod zu springen. Sie hatte Wasser nie besonders gemocht, das Meer nicht, Schiffe schon gar nicht. Sie hatte schon immer schreckliche Angst gehabt zu ertrinken. Sie konnte sich nicht einmal Filme über Schiffsunglücke ansehen.
Und irgendwie wurde sie das Gefühl, dem Tod direkt ins Auge gesehen zu haben, von ihm bereits umarmt worden zu sein, nicht los. Sie wusste, dass sie lebte. Sie wusste es, seit sie es geschafft hatte, aus dem schwarzen, rauschenden, alles verschlingenden Meer in das Rettungsboot zu kriechen. Seit das Fischerboot aufgetaucht war und sie an Bord genommen hatte. Seit sie in Portree wieder festen Boden unter den Füßen gespürt hatte, gehüllt in eine Wolldecke, in der Hand eine Flasche Mineralwasser, die ihr irgendjemand gegeben hatte. Sie wusste auch jetzt, dass sie lebte. Aber sie schaffte es nicht, den Gedanken an den Tod beiseite zu schieben. Er war immer noch da, dicht neben ihr. In Gestalt der schwarzen, gurgelnden Wellen.
Am frühen Morgen war der Arzt bei ihr gewesen und hatte ihr erklärt, dass man sie an diesem Tag entlassen würde.
»Körperlich sind Sie wiederhergestellt«, hatte er gesagt, »und dies zu erreichen war unsere Aufgabe. Mehr können wir jetzt nicht für Sie tun. Sie sollten sich aber unbedingt in psychotherapeutische Behandlung begeben. Mit einem Schock ist nicht zu spaßen.«
Sie hatte noch im Bett gefrühstückt, mehr als zwei Schlucke Kaffee und einen Löffel Marmelade jedoch nicht herunterbekommen. Ihre Zimmergenossinnen hatten einige Male versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie hatte so getan, als verstehe sie nur schlecht Englisch und könne es noch schlechter sprechen, und so hatten die anderen schließlich aufgegeben. Sie aber hielt es in dem Zimmer nicht mehr aus. Sie stand auf, schleppte sich auf weichen Knien ins Bad, starrte das hohlwangige, bleiche Gespenst im Spiegel an. Entlassen! Das stellte sich der Arzt so einfach vor. Sie musste warten, bis Nathan vorbeikam, und nachdem er sich am Vortag nicht hatte blicken lassen, stieg von Minute zu Minute ihre Angst, er werde auch heute nicht auftauchen. Dann stand sie da, ohne ein Bett, aber auch ohne Geld und ohne eine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Den höhnischen Blicken der beiden Weiber in ihrem Zimmer ausgesetzt, die sicher schon allmählich spannten, dass in ihrer Ehe etwas ganz und gar nicht stimmte.

S
ie wusch sich oberflächlich. Ihre Haare waren schon ganz dunkel vor Fett, aber sie hatte kein Shampoo, und eigentlich waren fettige Haare ihr geringstes Problem. Sie schlich ins Zimmer zurück, kramte ihre Sachen aus dem Schrank. Virginia Quentins Sachen, korrigierte sie sich. Sie selbst besaß ja nichts mehr auf dieser Welt. Überhaupt nichts mehr. Die Jeans und der Pullover hatten ihr recht gut gepasst, waren aber jetzt viel zu weit. Sie musste viel Gewicht verloren haben. Die Hose rutschte bedenklich tief auf ihre knochigen Hüften hinunter, und in dem Pullover hätte sie glatt eine zweite Person untergebracht. Sie musste aussehen wie eine Vogelscheuche.
Eine skelettierte Vogelscheuche, fügte sie in Gedanken hinzu. Immerhin hatte die Erinnerung an Virginia Quentin sie auf den Einfall gebracht, zu versuchen, die Telefonnummer ihrer Wohltäterin ausfindig zu machen und sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Nur so konnte sie mit Nathan in Kontakt treten. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.02.2007