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Noch während Frederic am Bahnsteig wartete und alle Reisenden scharf musterte, rief Grace zurück.
»Niemand da, Sir«, berichtete sie, »und das Auto ist auch weg. Sieht so aus, als wäre Mrs. Quentin wirklich abgereist. Es war alles gut verschlossen, Fenster und Türen, auch die Läden hat sie zugemacht.«
Er empfand eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Besorgnis. Erleichterung, weil Virginia offenbar tatsächlich abgereist war, weil sie loyal zu ihrem Versprechen gestanden hatte - oder zumindest hatte stehen wollen. Denn irgendetwas war schief gegangen. Sie kam auch mit diesem Zug nicht. Sie meldete sich nicht. Sie war spurlos verschwunden. Die Besorgnis begann seine Erleichterung zu verdrängen.
Was war passiert?

U
nd welche Rolle, dachte er plötzlich, spielt Nathan Moor bei Virginias Verschwinden? Um neun Uhr abends hielt er es nicht mehr aus. Er hatte noch einen dritten Zug aus KingÕs Lynn abgewartet und war schließlich direkt vom Bahnhof in seine Wohnung zurückgekehrt, in der vagen Hoffnung, Virginia könnte auf irgendwelchen abenteuerlichen Umwegen inzwischen dort gelandet sein, aber natürlich war alles still und leer. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Sektgläser, im Kühlschrank befand sich der Champagner, den er mit ihr zur Begrüßung hatte trinken wollen. Sogar neue weiße Kerzen hatte er in alle Kerzenhalter im Zimmer gesteckt, ein Feuerzeug bereitgelegt. Romantischer Trottel, der er war. Er hätte wissen müssen, dass es nicht klappen würde.
Jetzt werde nicht wütend auf sie, rief er sich zwischendurch zur Ordnung, du hast keine Ahnung, in welcher Klemme Virginia womöglich steckt!
Wieder und wieder rief er ihr Handy an, obwohl ihm inzwischen klar war, dass sie die Anrufe nicht annehmen wollte oder konnte. Aber irgendetwas musste er tun, und im Moment fiel ihm nichts anderes ein. Noch zweimal sprach er auf die Mailbox. Es war die einzige, winzig kleine Möglichkeit, so etwas wie einen Kontakt zu ihr herzustellen.

S
ollte er zur Polizei gehen? Nach allem, was er wusste, musste eine bestimmte Zeit seit dem Verschwinden einer Person vergangen sein, ehe die Polizei etwas unternahm. Vierundzwanzig Stunden? Oder mehr? Er wusste es nicht genau. Aber Virginia war knapp fünf Stunden abgängig, wenn man die Ankunft des Zuges aus KingÕs Lynn als Ausgangspunkt nahm. Bestimmt würde sich noch kein Beamter an diesem Abend in Bewegung setzen.
Schließlich wurde ihm klar, dass er verrückt werden würde, wenn er bis zum nächsten Morgen nur in der Wohnung auf-und ablief.
Natürlich konnte es sinnvoll sein, in London zu warten, aber aus irgendeinem Grund glaubte er nicht, dass Virginia überhaupt bis London gekommen war. Wo war sie zuletzt gesehen worden? In Ferndale, am Mittag, als sie Kim bei den Walkers ablieferte. Und genau dort wollte er hin. Denn da war sie immerhin neun Stunden zuvor definitiv gewesen. Alles andere, was man über ihren Aufenthaltsort mutmaßen konnte, war reine Spekulation.
Er rief bei den Walkers an, erreichte wieder Jack und teilte ihm mit, dass er sich auf den Weg nach Norfolk machte.
»Soll ich Sie nicht morgen früh abholen, Sir?«, fragte Jack. »Sie haben schließlich kein Auto, undÉ«
»Nein. So lange möchte ich nicht warten. Ich nehme einen Leihwagen. Sollte sich Mrs. Quentin bei Ihnen melden, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich irgendwann um Mitternacht herum zu Hause eintreffen werde.«
»Alles klar, Sir«, sagte Jack.
Frederic hatte beschlossen, mit der U-Bahn bis zum Flughafen Stansted zu fahren und sich dort ein Auto zu nehmen. Der Flughafen im Nordosten Londons war eine gute Ausgangsbasis, um nach Norfolk zu reisen, zudem vermied er damit die selbst zu später Stunde noch recht vollen Umgehungsstraßen Londons. Die U-Bahn-Station befand sich gleich vor seiner Haustür. Es war besser, irgendetwas zu tun.
Um kurz nach zehn saß er in einem Auto und steuerte auf die M11 Richtung Norfolk. So dicht an der Stadt herrschte noch starker Verkehr, aber je weiter er vorankam, umso ruhiger wurde es. Er fuhr schneller, als es erlaubt war, ab und zu bemerkte er es, wurde langsamer, stellte aber nach einiger Zeit fest, dass er schon wieder zu schnell fuhr. In ihm war eine schreckliche Unruhe. Er konnte einfach keine logische Erklärung für Virginias Verschwinden finden. Sie hätte am helllichten Tag in einen ganz normalen Zug auf einer viel befahrenen Strecke einsteigen und ebenfalls am helllichten Tag mitten in London aussteigen müssen. Wo, zum Teufel, sollte da etwas passieren? Sie hatte das Haus verriegelt, hatte ihr Kind beim Verwalterehepaar abgegeben. Sie war ganz offenbar zur Abreise entschlossen gewesen.
Das einzige Fragezeichen in der Kette war ihr Weg nach KingÕs Lynn hinein zum Bahnhof. Möglicherweise war sie dort schon nicht angekommen. Von einem Unfall hätten die Walkers jedoch längst gehört.
Immer intensiver kreisten Frederics Gedanken um Nathan Moor. Er vermutete, dass Virginia ihn im Auto dabeigehabt hatte. Wie anders hätte er von Ferndale in die Stadt kommen sollen? Sie hatte ihn mitgenommen, in der Absicht wahrscheinlich, ihn zu dem Krankenhaus zu fahren, in dem seine Frau lag. War er dort angekommen?
Er würde am nächsten Morgen als Erstes Livia Moor aufsuchen müssen. Vielleicht hatte sie eine Ahnung, wo ihr Mann abgeblieben war. Und wenn nicht? Wenn sie auch nichts mehr von ihm gehört hatte?

F
rederic bildete sich ein, eine recht gute Menschenkenntnis zu besitzen, und eines war ihm an jenem letzten Urlaubstag, den er erzwungenermaßen gemeinsam mit den Moors in seinem Haus in Dunvegan verbracht hatte, klar geworden: Nathan Moor hatte nicht die geringsten Gefühle für seine Frau übrig. Was immer ihn irgendwann einmal bewogen haben mochte, Livia zu heiraten, inzwischen war sie ihm völlig gleichgültig. In die Klinik nach KingÕs Lynn hatte er sie nur gebracht, da war sich Frederic sicher, um sich erneut an Virginia heranzuschleichen. Wobei ihm auch noch das Glück zur Hilfe gekommen war, dass sie allein, dass ihr Mann verreist war.
Was wollte er von ihr?

V
ielleicht ging es ihm nur ums Geld. Seitdem er das Haus auf Skye zum ersten Mal betreten hatte, schnorrte er sich gnadenlos durch. Frederic mochte nicht wissen, um wie viele Pfund er Virginia in den vergangenen Tagen erleichtert hatte. Der Bestsellerautor! Der aus unerfindlichen Gründen nicht an einen einzigen müden Euro auf seinem deutschen Konto herankam.
Am Ende war er einfach nur scharf auf das Auto gewesen. Befand sich damit längst auf der Flucht irgendwohin. Aber was hatte er mit Virginia gemacht? Auf welche Weise war er sie losgeworden?
Frederic schlug mit der geballten Faust auf das Lenkrad, erhöhte weiter die Geschwindigkeit, obwohl er sowieso gerade wieder einmal viel zu schnell fuhr. Er hätte sich ohrfeigen können! Er hätte einen Aufstand machen müssen, als er erfuhr, dass sich Nathan Moor in Ferndale einquartiert hatte. Schließlich hatten alle Alarmglocken in seinem Kopf zu schrillen begonnen. Er erinnerte sich, wie empört er gewesen war, als er davon hörte. Und dass er, irgendwo verborgen in sich, eine unbestimmte Furcht verspürt hatte, die mit seinem Abscheu gegenüber Moor zu tun hatte, mit dem tiefen Misstrauen, das er ihm von der ersten Sekunde an entgegengebracht hatte.
Aber klar - anderes war ihm wichtiger gewesen. Er musste ehrlich mit sich sein: Seine Gedanken waren fast ausschließlich um das wichtige Abendessen am Freitag gekreist. Um das Problem, Virginia an seine Seite zu ziehen. Er hätte es nicht riskiert, ihre Stimmung wegen eines Streits um Nathan Moor zum Kippen zu bringen. Er hatte sein dummes Gefühl, die warnende Stimme, seine Entrüstung beiseite geschoben, so weit weg gedrängt, dass er sie kaum mehr wahrnahm. Er hatte sich ausschließlich auf den Freitag konzentriert. Auf Virginia, die nach London kommen sollte. Auf ihren gemeinsamen Abend. Der, wenn alles gut gegangen wäre, der Auftakt zu weiteren gemeinsamen Aktivitäten zugunsten seiner politischen Karriere hätte sein sollen.
Idiot, der er gewesen war. Beschäftigt nur mit seinen momentan wichtigen Belangen. Und deshalb raste er nun durch diese dunkle, wolkige Nacht. Hatte Glück, wenn er nicht von der Polizei gestoppt wurde. Und hatte keine Ahnung, was auf ihn zukommen würde.

Freitag, 1. September
1
Es war kurz nach Mitternacht, als er in die Auffahrt zu Ferndale House einbog. Entlang des gewundenen Wegs brannten Laternen. Er konnte die dicht belaubten Bäume sehen. Es war, als führe man durch einen tiefen Wald.
Mit steifen Gliedern kroch er aus dem Leihwagen, kramte seine Schlüssel hervor. Er entsicherte die Alarmanlage, dann schloss er die Haustür auf. Im Flur roch es schwach nach Virginias Parfüm. Der Geruch kam von ihren Mänteln und Schals, die an der Garderobe hingen. Ganz kurz senkte er sein Gesicht in eine Jacke aus flauschigem Mohair. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.02.2007