20.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Wahrscheinlich hatte sie in den letzten Nächten kaum geschlafen, hatte sicher auch immer wieder erwogen, in letzter Sekunde noch einen Rückzieher zu machen. Sie hatte nichts davon gesagt, aber er wusste, dass sie von ihren Ängsten gequält worden war.
Konnte es sein, dass sie in KingÕs Lynn gar nicht eingestiegen war?
Auf jeden Fall war sie ganz offensichtlich in London nicht ausgestiegen. Inzwischen gab es keinen Zweifel mehr, dass sie sich nirgendwo auf dem Bahnsteig befand. Er konnte sie nicht verpasst haben, es war unmöglich, dass sie unbemerkt an ihm vorübergegangen war. Der Zug war längst weitergefahren. Schon sammelten sich Reisende, die auf den nächsten Zug warteten.
Er versuchte es immer wieder auf ihrem Handy, geriet aber unweigerlich an die Mailbox. Schließlich hinterließ er eine Nachricht. »Virginia, ich bin es, Frederic. Ich stehe hier am KingÕs-Cross-Bahnhof. Es ist zwanzig vor fünf. Wo steckst du? Melde dich doch bitte!«
Wenn sie tatsächlich irgendwo auf dem Bahnhof herumirrte und ihn nicht fand, würde sie ihn anrufen. Zumindest ihr eigenes Handy einschalten. Es war absurd. Sie war nicht da.
Nach einigem Zögern wählte er schließlich die Nummer von Ferndale. Zögernd deshalb, weil er größte Angst hatte, sie könnte sich dort tatsächlich melden. Das hieße, dass sie ihre Pläne geändert hatte, dass sie nicht kommen würde.

A
ber auch dort sprang nach sechsmaligem Klingeln nur der Anrufbeantworter an. Frederic sprach nichts auf das Band. Er wollte ihr nicht unterstellen, zu Hause geblieben zu sein. Er ging in das Bistro zurück, bestellte noch einen Kaffee. Von seinem Stehtischchen aus hatte er einen recht guten Überblick über die Bahnhofshalle, und noch immer musterte er mit scharfen Augen die vorüberströmenden Menschen. Obwohl er nicht mehr wirklich glaubte, dass sie überhaupt da war. Sie hätte ihn längst über ihr Handy zu orten gesucht. Es sei denn, sie hätte ihr Gerät aus Versehen daheim gelassen. Was er für unwahrscheinlich hielt, da es ihre Kontaktmöglichkeit zu Kim darstellte. Außerdem glaubte er nicht an so viele Zufälle. Erst rannten sie aneinander vorbei, was schon kaum möglich gewesen wäre, dann stellte sich auch noch heraus, dass sie ihr Telefon liegen gelassen hatteÉ
Nein. Es war viel einfacher: Sie war daheim geblieben und meldete sich nun nicht, weil sie sich denken konnte, dass es ihr Mann war, der anrief.
Irgendeine Kraft in ihm hoffte noch immer. Es ging ihm dabei schon gar nicht mehr um das Abendessen am morgigen Tag. Sondern um seine persönliche Enttäuschung. Es schmerzte so sehr, von ihr im Stich gelassen zu werden.
Nach dem Kaffee suchte er eine Fahrplananzeige auf und fand heraus, dass der nächste Zug aus KingÕs Lynn um
17.50 Uhr eintraf. Ohne sich große Hoffnungen zu machen, beschloss er, diesen noch abzuwarten. Es war inzwischen kurz nach fünf.

U
m halb sechs hielt er es nicht mehr aus und rief bei den Walkers an. Er hatte diese Möglichkeit lange vor sich hergeschoben, weil er sich vor dem Verwalterehepaar nicht die Blöße geben wollte, von seiner Frau auf diese Weise versetzt worden zu sein. Aber Grace und Jack waren seine einzige Chance auf Klärung, und schließlich siegte seine Nervosität über seinen Stolz.
Jack meldete sich nach dem dritten Klingeln. »Ferndale House«, sagte er wie immer anstelle seines Namens. Frederic wusste, dass er sehr stolz war, auf einem so alten Landsitz arbeiten zu können.
»Jack, hier ist Frederic Quentin. Ich stehe gerade am KingÕs-Cross-Bahnhof in London undÉ«, er lachte verlegen und fragte sich gleich darauf, weshalb er eigentlich alles noch schlimmer machte, indem er lachte, »und warte vergeblich auf meine Frau. Sie ist nicht in dem Zug gewesen, den wir vereinbart hatten. UndÉ«
»Nicht?«, fragte Jack überrascht.
»Nein. Und da wollte ich fragenÉ sie wollte ja Kim zu Ihnen bringen. Hat sie das getan?«
»Ja. Heute Mittag schon. Wie vereinbart.«
Diese Auskunft zumindest beruhigte Frederic ein wenig. Zu irgendeinem Zeitpunkt heute hatte Virginia wenigstens vorgehabt, tatsächlich nach London zu reisen.
»Haben Sie sie zum Bahnhof gebracht?«, erkundigte er sich.
»Das wollte sie nicht.« Jack klang ein wenig gekränkt. »Ich habe es natürlich angeboten. Aber sie wollte ihren kleinen Wagen nehmen und ihn dann dort stehen lassen. Ehrlich gesagt halte ich so etwas nicht für vernünftig. AberÉ« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Frederic konnte sich vorstellen, wie er beleidigt die Schultern zuckte.

Er fand das allerdings auch merkwürdig. Andererseits aber nicht vollkommen außergewöhnlich. Sie war sicher nervös gewesen. Hatte vielleicht einfach keine Lust auf Jacks unvermeidliche politische Monologe gehabt, die eine höchst schlicht gestrickte Weltsicht offenbarten, die man nicht in jeder Gemütsverfassung ertragen konnte. Frederic war es auch manchmal so ergangen.
»Ich würde gern kurz mit Kim sprechen«, sagte er.
»Sie ist mit Grace draußen. Beeren pflücken. Ich schau mal, ob sie in der Nähe sind.«
Frederic konnte hören, dass der Hörer abgelegt wurde und dass sich Jacks Schritte entfernten. Eine Tür knarrte. Gedämpft vernahm er die Stimme, die abwechselnd nach Kim und Grace rief. Dann hörte er das Getrappel schneller Füße und Kims aufgeregte Stimme: »Daddy ist am Telefon?«
Gleich darauf schnaufte sie in den Hörer. »Daddy! Wir haben ganz viele Brombeeren gepflückt! Sie sind riesig und ganz süß!«
»Wie schön, mein Schatz.«
»Kommst du bald? Dann zeige ich dir, wo sie wachsen. Es sind noch viele da!«
»Ich komme bald«, versprach er. Dann fügte er hinzu: »Sag mal, Mummie hat dir doch gesagt, dass sie zu mir nach London kommen will, oder?«
»Ja. Und dass ihr beide am Samstag wiederkommt.«
»Hm. Sie hat gar nichts davon erwähnt, dass sie es sich vielleicht anders überlegt hat?«
»Nein. Wo ist Mummie denn?«
Im Hintergrund konnte er nun Grace und Jack hören.
»Was heißt das?«, fragte Grace gerade. »Sie ist nicht in London angekommen?«
»Es heißt, was es heißt«, brummte Jack. »Wahrscheinlich ist sie in den falschen Zug gestiegen. Ich wollte sie ja zum Bahnhof bringen, aber nein! Sie kommt ja allein bestens zurecht!«
»Wo ist Mummie?«, drängte Kim.
»Mummie hat vielleicht den falschen Zug erwischt«, nahm er Jacks Vermutung auf, obwohl er nicht daran glaubte. »Du musst dir keine Sorgen machen. Mummie ist erwachsen. Sie kann auf sich aufpassen. Sie wird in einen anderen Zug umsteigen und zu mir nach London kommen.«
»Ich darf aber noch bei Grace und Jack bleiben?«
»Klar. Hör mal«, ihm fiel noch etwas ein, »was ist denn ausÉ wie hieß er noch? Nathan. Was ist aus Nathan Moor geworden?«
»Er ist so nett, Daddy. Er hat gestern einen Spaziergang mit mir gemacht. Dabei hat er mir gezeigt, wie man eine Spur auslegt, damit man den Rückweg findet. Man mussÉ«
S
chon gut, Schatz, das erzählst du mir am besten ein anderes Mal. Hat Mummie ihn heute irgendwo hingebracht? Zu einem anderen Haus oder zum Bahnhof?«
»Nein«, sagte Kim verwirrt.
Er seufzte. Wenn Kim seit dem Mittag bei den Walkers war, hatte sie nicht mehr mitbekommen können, wohin sich Nathan Moor abgeseilt hatte. Oder besser: wohin er abgeseilt worden war. Den Anstand, von selbst zu gehen, hatte er vermutlich nicht besessen.
Grace hatte Kim offenbar den Hörer aus der Hand genommen, denn nun erklang ihre Stimme: »Mr. QuentinÉ SirÉ mir gefällt das gar nicht. Soll ich nicht zum Haus hinübergehen und nachsehen? Ich meine, ob Mrs. Quentin wirklich abgereist ist. VielleichtÉ«
»Ja?«
»Na ja, nicht, dass sie irgendwie unglücklich gestürzt ist und sich nicht melden kann oder so etwas!«

A
n etwas Derartiges hatte er noch gar nicht gedacht. Es war sicher vernünftig, Grace nachsehen zu lassen. Kurz überlegte er, ob es sein konnte, dass Virginia dem Widerling Nathan Moor am Ende gestattet hatte, weiterhin in ihrem Haus zu wohnen, und ob man Grace auf die Möglichkeit hinweisen musste, dass sie drüben auf einen fremden Mann stoßen würde, aber er entschied sich, nichts zu sagen. Offenbar hatten die Walkers von der Anwesenheit des Deutschen bislang nichts bemerkt, und auch Kim hatte ihn noch nicht erwähnt; er empfand es als angenehmer, wenn sie auch weiterhin nichts wussten.
»Okay, Grace, das ist nett. Sie rufen mich dann zurück, ja? Ich bin auf meinem Handy erreichbar.« Er ließ sich noch einmal Kim geben, verabschiedete sich von ihr, beendete dann das Gespräch. Es war fast Viertel vor sechs. Noch knapp zehn Minuten bis der nächste Zug eintraf. Weshalb nur glaubte er nicht, dass Virginia darin sein würde?
Und die nächste Frage war: Wenn sie tatsächlich nicht auftauchte und wenn auch Grace sie daheim nicht antraf - was sollte er dann tun? Die Polizei verständigen?
Der Zug erreichte den Bahnhof mit zwanzigminütiger Verspätung.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.02.2007