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Die Unruhe hatte sich später erst an ihn herangeschlichen, als Kim ungefähr drei Jahre alt war, als das Leben mit Frau und Kind schon Alltag geworden war, ihm nicht mehr als einziges großes Wunder erschien. Auf einmal war er fast schwermütig geworden bei dem Gedanken, sein ganzes weiteres Leben Morgen für Morgen in seine Bank zu gehen, mit langweiligen Kunden zu sprechen und öde Partys zu veranstalten, bei denen sich alle auf seine Kosten betranken. Er musste die Großanleger hofieren, auch wenn er sie verabscheute, und nie hatte er das Gefühl, wirklich etwas zu bewegen, nicht in seinem Leben und schon gar nicht in seinem Land. Er tat das, was seine Vorfahren getan hatten, aber ohne dabei das Bewusstsein zu genießen, etwas selbst geschaffen zu haben. Sein Urgroßvater hatte die Bank gegründet. Sein Großvater und sein Vater hatten sie entscheidend ausgebaut. Er selbst hielt nur noch zusammen, was andere aus dem Boden gestampft hatten.

E
r war schon als Student bei den Konservativen engagiert gewesen, hatte etliche gute Kontakte aufgebaut, diese dann jedoch lange Zeit vernachlässigt. Als die Phase der Unruhe begann - er nannte diese Zeit auch für sich immer so: Die Phase der Unruhe -, hatte er zunächst langsam begonnen, diese alten Fäden wieder aufzunehmen. Er wusste nicht genau, ob er von Anfang an eine politische Karriere im Sinn gehabt hatte. Wahrscheinlich schon. Vielleicht hatte der Gedanke, einmal im Unterhaus zu sitzen und aktiv etwas zu den Geschicken seines Landes beizutragen, schon immer in ihm geschlummert.
Er sah auf seine Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Ankunft des Zuges. Seinen Kaffee hatte er längst ausgetrunken. Er legte ein paar Münzen auf den Bistrotisch neben seine Tasse und machte sich langsam auf den Weg zum Bahnsteig.
Es war auch ein Bahnhof gewesen, auf dem er Virginia zum ersten Mal gesehen hatte. Allerdings nicht KingÕs Cross, sondern Liverpool Street. Beide hatten sie auf den Zug nach Cambridgeshire und Norfolk gewartet. Er wollte nach KingÕs Lynn, weil ihn der Verwalter seines Landsitzes, Jack Walker, zwei Tage zuvor angerufen hatte. Ein verheerendes Unwetter hatte große Schäden am Dach des Haupthauses angerichtet, Jack konnte die Reparaturen nicht allein durchführen und wollte sich wegen der zu erwartenden Kosten mit seinem Chef absprechen. Frederic hatte gestöhnt, es war Dezember, und wie immer platzte sein Terminkalender kurz vor Weihnachten und Jahresende aus allen Nähten. Aber er sah ein, dass er einen Angestellten mit derart kostenintensiven Entscheidungen nicht allein lassen konnte. Während er am Bahnhof stand, frierend, die kalten Hände tief in seine Manteltaschen vergraben, hatte er sehr ernsthaft darüber nachgedacht, ob es vielleicht sinnvoll wäre, Ferndale House zu verkaufen. Er selbst würde nie dort leben wollen, nicht einmal seine Urlaube verbrachte er in dem düsteren Gemäuer. Ein Klotz am Bein, der gewaltige Kosten verursachte, mehr war Ferndale nicht für ihn. Nur seine Loyalität gegenüber seinen verstorbenen Ahnen, für die das Haus eine Art Sammelpunkt für alle Familienmitglieder dargestellt hatte, hielt ihn bislang vor einer endgültigen Entscheidung zurück.

V
irginia hatte ein paar Schritte von ihm entfernt gewartet. Eine junge blonde Frau, sehr schmal und blass, gehüllt in einen schwarzen Wintermantel, in den sie sich tief hineinkuschelte. Die Traurigkeit auf ihrem Gesicht hatte ihn fasziniert. Er hatte sich ertappt, dass er immer wieder zu ihr hinüberschaute und dass er ihr am liebsten noch seinen Mantel angeboten hätte, da sie so sehr zu frieren schien. Als der Zug endlich kam, war er ihr wie zufällig in dasselbe Abteil gefolgt und hatte ihr gegenüber Platz genommen. Er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden und kam sich zudringlich, albern und irgendwie verzweifelt vor. Sie hatte sofort ein Buch aus der Tasche gezogen und sich in seine Seiten vertieft, und er hatte auf den Umschlag gestarrt und sich den Kopf zerbrochen, wie er es anstellen könnte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Als sie endlich den Kopf hob und für ein paar Minuten hinaus in die von Raureif überzogene Landschaft von Essex blickte, über deren sanft gewellte Hügel sich bereits die frühe winterliche Dämmerung senkte, hatte er einen Vorstoß gewagt.
»Tolles Buch«, sagte er wie nebenher, »ich habe es auch gelesen.«
Das stimmte nicht. Er kannte weder den Titel noch den Autor. Die junge Frau hatte ihn überrascht angeblickt.
»Ja?«
»Ja. VorÉ einem Jahr ungefährÉ« Er hatte einen größeren Zeitraum angegeben, um eine Entschuldigung zu haben, wenn er in Details Unsicherheit zeigte - sollte sich eine Diskussion ergeben.
Sie runzelte die Stirn. »Das kann nicht sein. Dieses Buch ist doch gerade erst erschienenÉ«
Er hätte sich ohrfeigen können. »Ja? Wirklich?«
Sie blätterte ganz nach vorn. »Ja. Im Oktober. Also vor acht Wochen etwa.«
»Hm.« Er tat so, als studiere er den Titel noch einmal ganz genau. »Ich glaube, ich habe mich geirrt«, bekannte er dann und kam sich wie ein Idiot vor. »Ich kenne das Buch wohl doch nicht.«
Sie hatte darauf nichts erwidert, sich stattdessen wieder in die Lektüre vertieft.
Er hatte alles vermasselt, aber es war ihm schon manchmal so ergangen: Wenn er nichts mehr zu verlieren hatte, wurde er von genau der Kühnheit erfasst, die ihm sonst üblicherweise fehlte.
»Ich habe mich nicht geirrt«, sagte er. »Ich wusste von Anfang an, dass ich das Buch nicht kenne.«
Sie blickte auf. Wirkte etwas genervt. »Ach?«
»Ich wollte mit Ihnen ins Gespräch kommen. Und habe es wohl außerordentlich dumm angefangen.« Er lächelte hilflos. »Ich heiße Frederic Quentin.«
»Virginia Delaney.«

I
mmerhin hatte sie ihm ihren Namen genannt. Sie hätte sich auch wortlos abwenden können. Er hatte es sich nicht völlig mit ihr verdorben.
Sie hatten im September des darauffolgenden Jahres geheiratet, zwei Wochen nachdem die Prinzessin von Wales bei einem Autounfall in Paris ums Leben gekommen war. Er erinnerte sich, dass alle Gäste der Hochzeit nur darüber gesprochen hatten, dass jeder der Anwesenden den Trauerfall in der königlichen Familie für spannender gehalten hatte als die Tatsache, dass sich zwei Menschen das Jawort gaben. Aber das hatte ihn nicht gestört. Er war so glücklich gewesen, dass er nicht einmal dann gelitten hätte, wenn überhaupt niemand zu der Feier erschienen wäre.
Er blickte auf seine Uhr. Jede Sekunde musste der Zug eintreffen. Er überprüfte noch einmal, ob er am richtigen Gleis stand. Er hatte wirklich ein wenig Herzklopfen, genau wie damals, an jenem dunklen Dezembertag. Er wusste, dass er Virginia nach neun Jahren Ehe noch ebenso unvermindert liebte wie am Anfang, vielleicht sogar noch mehr.
Er fieberte dem Moment entgegen, da er sie in die Arme nehmen konnte.

2
Zwanzig Minuten später war er völlig ratlos.
Der Zug war fast auf die Minute pünktlich eingetroffen, Scharen von Reisenden waren aus den geöffneten Türen geströmt. Da Frederic nicht wusste, in welchem Wagen Virginia saß, hatte er sich so positioniert, dass er einen guten Überblick gewann; er konnte sich nicht vorstellen, sie zu übersehen. Er wartete und wartete. Vielleicht war sie in einem der letzten Waggons gewesen, und hoffentlich musste sie sich nun nicht mit zu viel Gepäck abschleppen. Er wäre ihr gern entgegengegangen, wagte es aber zunächst nicht, seinen Platz zu verlassen, aus Angst, sie könnten sich dann verfehlen. Zwischendurch versuchte er sie auf ihrem Handy anzurufen, aber entweder hatte sie es nicht eingeschaltet, oder sie hörte es nicht. Es sprang nur die Mailbox an.
Hier spricht Virginia Quentin. Bitte hinterlassen Sie mir eine NachrichtÉ
Als sich der Bahnsteig so weit gelichtet hatte, dass er nicht mehr fürchten musste, im Gewühl an ihr vorüberzulaufen, begann er am Zug entlangzugehen. Niemand stieg mehr aus, inzwischen waren sogar die meisten Wartenden schon eingestiegen. Vereinzelt standen noch Leute herum, die einander gerade begrüßten, zwei jugendliche Tramper sortierten ihre unzähligen Gepäckstücke, eine ältere Dame mühte sich mit einem Stadtplan ab, dessen Faltsystem sie offensichtlich nicht durchschaute. Ein Bahnbediensteter schob herumstehende Gepäckwagen ineinander. Nirgendwo eine Spur von Virginia.

F
rederic lief jetzt schneller, versuchte, durch die Fenster in die Abteile hineinzusehen. War sie eingeschlafen und hatte die Ankunft überhaupt nicht mitbekommen? Hatte sie sich derart intensiv in ein Buch vertieft, dass die Welt um sie herum versunken war?
Was war geschehen?
Wo war Virginia?
Ankunft 16.15 Uhr, hatte sie ihm gesagt, er war sich völlig sicher. KingÕs Cross, auch da war er sich sicher. Er hatte es auf einem Zettel notiert und es sich von ihr auch noch einmal bestätigen lassen.
Die Furcht, die sich tief in seinem Innern zu regen begann, war nicht neu, wurde keineswegs erst in diesem Moment geboren. Er hatte sie die ganze Zeit über in sich getragen, seit Virginia ihm versprochen hatte, nach London zu kommen. Er kannte seine Frau nur zu gut. Ihm war klar, wie nervös ihre Zusage sie gemacht haben musste. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.02.2007