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»Die Europäische Union gefährdet
die parlamentarische Demokratie«

Aus einer Analyse von Bundespräsident a.D. Roman Herzog und Europa-Forscher Lüder Gerken

Was nützt ein Bundestag mit gewählten Abgeordneten, wenn die Politik aus Brüssel kommt, ohne dass eine vergleichbare demokratische Legitimation dahinter steht? Das fragten Bundespräsident a.D. Roman Herzog und der Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP), Lüder Gerken, in einer umfänglichen Analyse als Gastbeitrag in der »Welt am Sonntag«. Diese Zeitung berichtete am 15. Januar gleichfalls über das Thema. Auch wegen interessierter Nachfragen von Seiten unserer Leser werden im folgenden noch einmal die wesentlichen Thesen dargestellt, ergänzt um einen längeren Auszug aus dem Originaltext.

Herzog und Gerken fordern die deutsche Politik auf, eine »konstruktive Diskussion« über die Frage zu führen, »ob der Verfassungsvertrag Europa wirklich zum Besten gereichen würde.« Konkret heißt es in dem Text: »Wir sollten die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, um einen solchen Diskussionsprozess in Gang zu setzen.« Eine Politik des »Weiter so« führe zu einer weiteren Erosion des europäischen Integrationsprozesses.
Ausdrücklich bezieht Herzog Stellung gegen die Einführung der vorliegenden EU-Verfassung. »Der Verfassungsvertrag schreibt letztlich die widersprüchlichen und intransparenten Strukturen der EU fort, die maßgeblich für die Probleme verantwortlich sind, vor denen wir heute stehen«, halten Herzog und Gerken fest. Das von dem Mit-Autor geleitetete CEP ist ein wissenschaftliches Kompetenzzentrum, das Gesetzesvorhaben der Europäischen Union bewertet - bevor sie verabschiedet werden. Auf der Basis ordnungspolitischer Grundsätze unterrichtet das CEP Politik und Gesellschaft über Entwicklungen auf EU-Ebene und deren Auswirkungen und unterstützt die Entscheidungsträger in Deutschland bei ihrer aktiven Mitgestaltung der EU-Politik.
Die Initiative stellt sich gegen die Pläne der Bundesregierung, den Europäischen Verfassungsvertrag während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft neu zu beleben.Ê Der ehemalige Bundespräsident und der Politologe Gerken kleiden ihre schärfste These in Frageform: »Es stellt sich die Frage, ob man die Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch uneingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann«. Als Hauptprobleme der EU nennen sie »den Mangel an Demokratie und Gewaltenteilung sowie die sachwidrige Zentralisierung«. Über den weitaus größten Teil der in Deutschland geltenden Gesetze beschließe, über den Ministerrat der EU, die Bundesregierung und nicht der Bundestag.
Daher fordern die Autoren einen abschließenden Kompetenzkatalog, der »Umfang und Grenzen der EU-Zuständigkeiten« festlege. Auch müsse es die Möglichkeit geben, Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten zurückzuverlagern. Zudem müsse auch in der EU das Diskontinuitätsprinzip gelten, das Gesetzesvorhaben, die innerhalb einer Legislaturperiode nicht verabschiedet werden, automatisch verfallen lässt.
Außerdem fordern Herzog und Gerken zusätzlich zum Europäischen Gerichtshof einen eigenständigen »Gerichtshof für Kompetenzfragen«, der »ausschließlich über Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene entscheidet.«
Lesen Sie im folgenden einen wesentlichen Abschnitt aus dem Originaltext:
»Ohne Zweifel: Die Europäische Union steht an einer Wegmarke. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden ist es dringend notwendig, eine fundierte Bestandsaufnahme vorzunehmen und - danach - ein Leitbild zu entwickeln, wie es mit der europäischen Integration weitergehen soll, weitergehen kann.
So genannte Intergouvernementalisten führen die gegenwärtige Entwicklung darauf zurück, dass die Kommission und das Europäische Parlament, aber auch der Europäische Gerichtshof nach immer weiterer Machtfülle streben. Als Ausweg sehen sie eine starke Rolle des EU-Ministerrates, der sich aus den Vertretern der mitgliedstaatlichen Regierungen zusammensetzt und von dem jedes EU-Gesetz gebilligt werden muss. Dahinter steht der Gedanke, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten aus eigenem Machterhaltungstrieb einer übermäßigen, sachwidrigen Zentralisierung Einhalt gebieten werden.
Auf der anderen Seite stehen die Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben. Sie beklagen massive institutionelle Defizite bei den Organen und Entscheidungsverfahren auf EU-Ebene, die ineffektiv, intransparent und undemokratisch seien, und empfinden diese Defizite als umso gewichtiger, je weiter sich die Europäische Union entwickelt. Sie fordern vollständige staatliche Strukturen für die EU im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre, insbesondere ein Parlament als souveräne Legislative und eine Regierung als souveräne Exekutive - ohne dass die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Rat Sand ins Getriebe streuen können.
Der institutionelle Aufbau der EU ist ein Kompromiss aus diesen beiden idealtypischen Vorstellungen: Die Kommission ist eine Art Regierung, die es sich aber nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten, die im Rat mitbestimmen, verscherzen darf. Die Legislative besteht aus zwei Organen: dem Rat und dem Europäischen Parlament, wobei das Parlament bei vielen, aber bei Weitem nicht allen Angelegenheiten neben dem Rat mitentscheidet; den größeren Einfluss hat der Rat.
Unbestreitbar treffen die Problemdiagnosen sowohl der Intergouvernementalisten als auch der Föderalisten zu.
Das Bundesjustizministerium hat für die Jahre 1998 bis 2004 die Zahl der Rechtsakte der Bundesrepublik Deutschland und die Zahl der Rechtsakte der Europäischen Union einander gegenübergestellt. Ergebnis: 84 Prozent stammten aus Brüssel, nur 16 Prozent originär aus Berlin. Diesen Zahlen darf man nicht entgegenhalten, dass die »wichtigeren« Gesetze in Berlin gemacht würden. Die Binnenmarktgesetzgebung, die Umweltrichtlinie Fauna-Flora-Habitat und das Diskriminierungsrecht, um einige Beispiele zu nennen, sind europäische Rechtsakte, welche die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung grundlegend verändert haben und nachhaltig prägen.
Die europäische Integration ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass das Demokratiedefizit und die weitgehende Aufhebung der Gewaltenteilung mit all ihren negativen Folgen einer Lösung zugeführt werden müssen.
Ein vollwertiges Europäisches Parlament als Legislative ist hierfür zwingende Voraussetzung. Zu begrüßen ist daher, dass der Verfassungsvertrag dem Europäischen Parlament deutlich mehr Mitentscheidungsrechte als bisher zubilligen will. Was der Verfassungsvertrag dagegen nicht leistet, ist die Eindämmung des Spiels über Bande, welches nationale Ministerien über den Ministerrat systematisch betreiben. Transparenz und die klare Zuweisung von Verantwortung für gute oder schlechte Politik werden also gerade nicht hergestellt.
Hierzu hätte der Rat, zumindest im Bereich der Gesetzgebung, zu einer zweiten Kammer im Sinne eines klassischen Zwei-Kammer-Systems weiterentwickelt werden müssen - einer Kammer, die zwar einer sachwidrigen Zentralisierung Einhalt gebietet, jedoch nicht selbst eine treibende Kraft für sachwidrige Zentralisierung darstellt, indem sie national nicht durchsetzbare Partikularinteressen über die Europäische Union durchsetzt.
Auch im Verhältnis zwischen nationaler Exekutive und nationalem Parlament kann nicht von einer Entschärfung des Problems gesprochen werden. Zwar sollen die nationalen Parlamente das Recht erhalten, an EU-Gesetzesentwürfen einen ihres Erachtens bestehenden Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen. Jedoch bindet eine solche Rüge eines nationalen Parlaments die EU-Organe nicht, sodass sie keine zwingenden Konsequenzen hat.
Vor allem aber räumt der Verfassungsvertrag mit der so genannten Passerelle-Klausel den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten - also der nationalen Exekutive, nicht den nationalen Parlamenten - das Recht ein, EU-Zuständigkeiten, für die das Erfordernis der Einstimmigkeit gilt, in Zuständigkeiten mit Mehrheitsentscheidungen umzuwandeln.
Mit anderen Worten: Die Exekutive wird ermächtigt, eigenständig und ohne dass das nationale Parlament zustimmen muss, einen völkerrechtlichen Vertrag zu modifizieren, der für den einzelnen Mitgliedstaat von fundamentaler Bedeutung ist.
Notwendig ist ein abschließender Kompetenzkatalog, der Umfang und Grenzen der EU-Zuständigkeiten festlegt. Der Verfassungsvertrag enthält einen solchen nicht, obwohl er bei den Verhandlungen im Verfassungskonvent zum Teil dezidiert gefordert wurde. Insbesondere leistet die nicht abschließende Zuständigkeitsordnung im ersten Teil der Verfassung dies nicht.
Die Inkraftsetzung des Verfassungsvertrages würde den Prozess der oft sachwidrigen, schleichenden Zentralisierung infolge der einfacheren Beschlussfassung sogar noch verstärken, statt ihn zu stoppen.
Auch muss das so genannte Diskontinuitätsprinzip auf der EU-Ebene eingeführt werden. Es besagt, dass Gesetzesvorhaben, die innerhalb einer Legislaturperiode nicht verabschiedet worden sind, automatisch verfallen, sodass das Verfahren in der neuen Legislaturperiode von vorne beginnen muss. Dies ist in Deutschland selbstverständlich. Nicht so auf der EU-Ebene.
Der Verfassungsvertragsentwurf enthält die Möglichkeit zur Rückverlagerung einzelner Kompetenzen nicht. Er setzt auf die bisherige Einbahnstraße in Richtung auf eine immer weitere Zentralisierung.
Schließlich muss die schleichende Zentralisierung über die europäische Rechtsprechung des EuGH gestoppt werden. Voraussetzung hierfür ist ein neben dem EuGH einzurichtender, eigenständiger »Gerichtshof für Kompetenzfragen«, der ausschließlich über Fragen der Kompetenzabgrenzung entscheidet.
Ein solcher Gerichtshof für Kompetenzfragen sollte sich, um seine Unabhängigkeit zu gewährleisten, aus Mitgliedern der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zusammensetzen. Ihm müssen nicht nur die Rechtsakte und politischen Maßnahmen von Kommission und Europäischem Parlament vorgelegt werden können, sondern auch die Urteile des EuGH, soweit die Kompetenzabgrenzung entscheidungserheblich ist. Klagebefugt sollten neben den Organen der EU und den Regierungen der Mitgliedstaaten auch die nationalen Parlamente und, was für föderale Staatswesen wie die Bundesrepublik wichtig ist, die Länder sein. Der Verfassungsvertrag sieht zwar vor, dass die nationalen Parlamente und der Ausschuss der Regionen bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip Klage erheben können. Dieses Recht läuft jedoch weitgehend leer.«Seite 4: Leitartikel

Artikel vom 14.02.2007