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»Augenkünstler« sorgen
für den richtigen Anblick
Seit fünf Generationen produziert Familie Müller-Uri künstliche Augen
Wiesbaden (dpa). Jan Müller-Uri hebt das Lid an und lässt das Glasauge in die Höhle gleiten. »Bitte links schauen, rechts - perfekt.« Helmut Rückert greift zum Handspiegel: Kunde und Künstler sind zufrieden. Kein flüchtiger Blick wird erkennen, dass der Rentner ein Glasauge trägt. Weniger als eine Stunde brauchen die Mitarbeiter der Firma »F. Ad. Müller Söhne - Institut für künstliche Augen«, um ein Glasauge zu fertigen. Bei den letzten Arbeitsschritten sitzt der Kunde einäugig daneben, während in der Flamme des Brenners aus einer weißen Röhre und vielen bunten Glasstäbchen eine individuelle Prothese entsteht.
Auch wenn der Beruf des »Augenkünstlers« überaus selten ist - in Wiesbaden lebt eine ganze Familiendynastie davon. Die Firma F. Ad. Müller Söhne existiert bereits in der fünften Generation - und die heutigen fünf Chefs tragen allesamt den Namen Müller-Uri. Jan Müller-Uri führt das Unternehmen zusammen mit seiner Schwester, zwei Großonkeln und seinem Großcousin. Mit 14 Ocularisten gehören die Müller-Uris zu den größten in dieser kleinen Branche. Zu den prominentesten Kunden zählt TV-Moderator Frank Elstner.
»Es gibt 24 Betriebe und vielleicht 60 oder 70 Ocularisten in Deutschland«, weiß Christoph Weidner, Vorsitzender des vielleicht kleinsten Berufsverbandes Deutschlands, der Deutschen Ocularistischen Gesellschaft (DOG). Weidner ist Augenkünstler in Hamburg. Selbst in guten Jahren wird nicht mehr als ein einziger Lehrling fertig. Die Ausbildung dauert harte sechs Jahre, früher waren es sogar sieben.
Die Kunst des Ocularisten besteht darin, die komplizierte Struktur der Iris möglichst lebensecht nachzuahmen. Das hinzukriegen ist eher eine Kunst als ein Handwerk. Und genau da liegt der Reiz, sagt Ulrich Müller-Uri: »Man kann mit diesem Beruf Menschen helfen, und zugleich ist es eine künstlerische Tätigkeit.«
Die Arbeit an einem Glasauge beginnt mit einer milchigweißen Röhre, die aussieht wie eine Neonlampe. Aus ihr bläst er eine Kugel, die in der Mitte einen schwarzen Punkt für die Pupille bekommt. Das dauert heute ein paar Sekunden, »aber man braucht ein Jahr bis man lernt, eine solche Kugel zu blasen.«
In einer 1300 Grad heißen, blauen Brenner-Flamme wird die glühend heiße Spitze zum Malstift. X-mal strichelt der Ocularist mit verschiedenen Stäbchen über die Pupille hinweg, bis die Mischung der Farben die Iris so realistisch wie möglich erscheinen lassen. Eine ganze Wand des Zimmers füllen Schubladen und Setzkästen mit braunen, blauen, grünen und grauen Augen in allen Größen, Helligkeitsstufen, Farbverläufen und Schattierungen. Rund 3000 Stück hat die Firma Müller Söhne stets vorrätig.
Was der Laie leicht für die fertigen Glasaugen halten könnte, ist allerdings nur ein Vorprodukt. Denn jede Prothese wird persönlich angepasst. Jan Müller-Uris erster Kunde an diesem Morgen ist ein alter Bekannter. Helmut Rückert trägt seit Jahrzehnten ein Glasauge. Sein linkes Auge verlor er mit 16 Jahren beim Hockeyspielen, 1949 bekam er bei Müller-Söhne sein erstes Glasauge angepasst. Wie alle Glasaugenträger bekommt Rückert einmal im Jahr eine neue Prothese. 250 Euro kostet das die Krankenkasse.
»Das Salz in der Tränenflüssigkeit greift die Oberfläche des Glases an«, berichtet sein Ocularist. Der 73-jährige nickt: »Dann geht das Lid nicht mehr richtig zu, das Auge beginnt zu tränen und zu jucken.« Normalerweise nehme er das künstliche Auge gar nicht wahr, erzählt der Bankbetriebswirt aus der Nähe von Darmstadt. Nachts nimmt er sein Glasauge heraus und legt es auf den Nachttisch.
Doch die wenigsten Kunden kommen selbst in das Jugendstilhaus mit den Flügeltüren und den Stuckdecken. Die Ocularisten der Firma F. Ad. Müller Söhne sind viel unterwegs. Sie bereisen 60 Städte in acht Ländern, um den Kunden ihre Kunstaugen vor Ort maßzuschneidern. »Nur vom Einzugsgebiet hier könnten wir nicht leben«, sagt Jan Müller-Uri.
Wie viele Menschen ein künstliches Auge tragen, ist unklar. Weidner, der Vorsitzende des Berufsverbandes, schätzt den Anteil auf weit weniger als ein Promille der deutschen Bevölkerung. Autounfälle sind als Ursache stark zurückgegangen, seit Sicherheitsgurte und Airbags eingeführt wurden. »Früher hatten wir hier jede Woche einen sitzen, der durch die Windschutzscheibe geflogen war«, erinnert sich Jan Müller-Uri. Heute sind Tumore die häufigste Ursache für den Verlust eines Auges.Sandra Trauner

Artikel vom 06.04.2007