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Wenn äußeres Chaos die
innere Ordnung gefährdet
Kinder mit Störungen der sensorischen Integration
Bielefeld (WB). Sensorische Integration - das ist der Prozess des Ordnens und Verarbeitens von Sinneseindrücken. Ist diese Hirnfunktion gut ausgereift, wird unter anderem eine normale Entwicklung von Bewegungsabläufen sowie Sprache und Intelligenz möglich. »Ist die Vernetzung unzureichend und führt zum Beispiel zu Verhaltensstörungen, muss man versuchen, diese ins Gleichgewicht zu bringen«, sagt Dr. Rainer Böhm, leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) in Bethel.
»Sensorische Integration (SI) ist der Prozess des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke, so dass das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken erzeugen kann. Die sensorische Integration sortiert, ordnet und vereint alle sinnlichen Eindrücke des Individuums zu einer vollständigen und umfassenden Hirnfunktion.« (aus Jean Ayres »Bausteine der kindlichen Entwicklung«)
Nur wenn die Hirnfunktionen ausgereift genug sind, können Körperbewegungen gezielt ausgeführt werden, dann ist das Lernen optimal möglich und es sind so die Voraussetzungen für die gesunde Intelligenzentwicklung und auch für eine reguläre Sprachentwicklung gegeben. Ist die Sinneswahrnehmung (taktiler Sinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Gleichgewichtssinn, Tiefensensibilität, Hörsinn und Sehsinn) nicht vollständig entwickelt und integriert, so kann dies Auswirkungen auf die Motorik und auf die gesamte Sprachentwicklung haben, wobei auch der Schriftspracherwerb betroffen sein kann.
»Wenn Entwicklungsstand, Reaktionen und Verhalten eines Kindes normal sind, ist alles in Ordnung. Bei Defiziten in der Sinnesverarbeitung kann die Qualität einzelner Funktionen abnehmen«, sagt Kinderarzt und Kinderneurologe Dr. Böhm. Ist ein Kind, meist angeboren, von einer sensorischen Integrationsstörung betroffen, kann das oft bereits im Säuglingsalter erkannt werden. Kinder mit einer SI-Störung weisen meist keine eindeutigen neurologischen Funktionsverluste auf. Häufig zeigen sie aber typische Symptome wie zum Beispiel Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Saug- und Schluckprobleme in Kombination mit sogenannten Säuglingskoliken, übermäßige Unruhe mit Schreiattacken beziehungsweise auffallend geringe Aktivität, Irritation bei Lageveränderungen und Abwehr bei Berührungen.
»Gerade dieses Verhalten der Babys führt vielfach zu Problemen, denn durch die Abwehrreaktionen kann es zu einer gestörten Interaktion zwischen Eltern und Kind kommen«, macht Dr. Böhm Einschränkungen deutlich, die neben einer Beratung der Eltern oft auch eine Therapie des Kindes erfordern.
Im Kleinkind- beziehungsweise Schulalter zeigen die so genannten SI-Kinder vor allem folgende Symptome:
¥eine verzögerte motorische Entwicklung: die Kinder wirken »tolpatschig und ungeschickt«, sie zeigen oft ein mangelndes Selbst- und Körperbewusstsein,
¥ verzögerte Sprachentwicklung,
¥ Geräuschempfindlichkeiten,
¥ Verhaltens- und Stressauffälligkeiten, Anpassungsschwierigkeiten an neue Situationen,
¥ fehlende Körperspannung, Hyper- oder Hypoaktivität,
¥ Teilleistungs- beziehungsweise Lernstörungen oder auch Störungen der Handbewegungen.
»Diese Einschränkungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Wenn sie deutlich wahrnehmbar sind oder das Kind Probleme selbst spürt und darunter leidet, müssen wir es genau untersuchen und eine Behandlung einleiten«, beschreibt der leitende Arzt seine und die Arbeit seiner Mitarbeiter im SPZ.
Das Sozialpädiatrische Zentrum in Bethel ist eine kinderärztlich geleitete, multidisziplinär arbeitende Ambulanz für die Diagnostik, Beratung und Therapie von Familien mit entwicklungsauffälligen oder behinderten Kindern aus ganz Ostwestfalen-Lippe. Aufgabe des SPZ ist es, Schwierigkeiten in der Entwicklung von Kindern möglichst früh zu erkennen, Ursachen festzustellen, einen Behandlungsplan aufzustellen, Eltern anzuleiten und, insbesondere bei komplexen Problemen, eine Therapie durchzuführen. Neben den Defiziten stehen dabei besonders auch die nutzbaren Ressourcen des Kindes und der Familie im Mittelpunkt.
Die Therapie einer SI-Dysfunktion, die auch von niedergelassenen Ergo- oder Physiotherapeuten oder in einer Frühförderstelle durchgeführt werden kann, dauert im SPZ mindestens sechs Monate und hat vor allem die Ergotherapie als Schwerpunkt. »Werden die Auffälligkeiten jedoch nicht erkannt und angemessen behandelt, kann es in Einzelfällen bis ins Erwachsenenalter zu Störungen bei Entwicklung und Leistungsfähigkeit kommen«, weiß Dr. Rainer Böhm und rät zugleich, sich nicht darauf zu verlassen, dass sich eine solche Störung vielleicht »verwächst«. Larissa Kölling

Artikel vom 02.03.2007