01.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Antisemitismus geht stark zurück

Die neuen Judenfeinde kritisieren Erinnerung als Gefahr für die Nation

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Antisemitismus findet in Deutschland immer weniger Anklang. »Wir beobachten seit Generationen einen starken Rückgang der judenfeindlichen Einstellung«, sagte gestern Professor Werner Bergmann vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.
Martin Walser hielt 1998 seine Paulskirchen-Rede.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Deutschen dagegen noch stark infiziert gewesen, berichtete Bergmann bei der Tagung »Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz« im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Die Allierten hätten 1945 mehr als die Hälfte der Deutschen als antisemitisch eingestuft. »Der Wunsch nach einem Schlussstrich unter das Schuldkonto wurde schon sehr früh geäußert«, berichtete Bergmann aus seinen Forschungen. Demnach bestand bei der Mehrheit der Bevölkerung Einigkeit darüber, dass die »Judenfrage« habe gelöst werden müssen - nur der Weg sei falsch gewesen. Der Soziologe verwies auf die verbreitete Neigung, die Verantwortung auf einzelne Gruppen wie die SS abzuwälzen (»Opa war kein Nazi«).
In den 1950er Jahren habe bei Umfragen ein Fünftel der Bevölkerung den Juden eine Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegeben und eine bevorzugte Behandlung der Opfer abgelehnt. Bereits 1947 berichtete der »US-Report« für die amerikanische Regierung, viele Deutsche neideten den davon gekommenen Juden Privilegien wie Lebensmittel und Wohnung. Altes Gedankengut schleppten selbst die führenden Politiker mit sich herum. Adenauer habe das »Weltjudentum« als eine »große Macht« bezeichnet, sagte Bergmann. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt beklagte 1950 auf ihrer Deutschland-Reise eine Gefühlskälte gegenüber den Leiden der Juden.
»Schuldbekenntnisse wie das der Evangelischen Kirche waren rar, abstrakt und in der Öffentlichkeit umstritten«, fasste Bergmann zusammen. In den 80er und 90er Jahren habe es einen sichtbaren Wandel gegeben: »Man kann von einer Entdeckung der Opfer sprechen. Biographien von Juden stießen auf großes Interesse.« Um so lauter sei dann der Aufschrei ausgefallen, als der Schriftsteller Martin Walser 1998 in der Rede in der Frankfurter Paulskirche die »ewige Opferrolle« der Deutschen und angebliche Beschuldigungsrituale kritisierte.
Heute sei der Antisemitismus keine Gefahr für die Demokratie, allerdings komme er in neuem Gewand daher. Statt die Juden wie seit Ende des 19. Jahrhunderts als geldgierige Zersetzer der Volksgemeinschaft herabzusetzen, werde ihnen jetzt der Wille zur Versöhnung mit den Deutschen abgesprochen. »Antisemiten neuen Stils argumentieren, der Holocaust und die Erinnerung daran verhinderten eine positive Identifikation mit der deutschen Nation«, sagte Bergmann.
Außerdem behaupteten sie, die Juden ließen die Deutschen mit ihren finanziellen Ansprüchen nicht in Ruhe. Die neuen Antisemiten, ergänzte der Wissenschaftler, lehnen das Wort Schuld ab und werfen Israel vor, »Pogrome« an den Palästinensern zu verüben.

Artikel vom 01.02.2007