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Mann wehrt sich
gegen den Kuss

Auguste Rodins Skulptur in Essen

»Der Kuss« ist kein Beispiel für innige Liebe. Foto: dpa
Essen (dpa). Das nackte Paar aus Bronze oder Marmor von Auguste Rodin gilt seit Generationen als Ikone inniger Liebe: In zärtlicher Umarmung umschlungen, von Abermillionen Fotos, Postkarten und Postern in alle Welt verbreitet, geistert Auguste Rodins (1840-1917) Skulptur »Der Kuss« durch das kollektive Bildgedächtnis der meisten Menschen. Fast so spannend wie knisternde Erotik ist die wahre Geschichte dieses Meisterwerkes, das der französische Bildhauer 1881/82 schuf und das von heute an im Mittelpunkt einer Ausstellung im Essener Museum Folkwang steht.
Die bis zum 8. April geöffnete Schau »Auguste Rodin. Der Kuss - Die Paare« lässt mit drei Dutzend weiteren erotischen Skulpturen sowie einer Reihe von Aquarellen, Zeichnungen und historischen Fotografien auch ein vielschichtiges Bild des bedeutenden Bildhauers entstehen. In Essen wird durch unmittelbaren Vergleich der Blick auf die mutigen Formfindungen des Franzosen möglich.
Beim »Kuss« scheinen die Lippen des sitzenden nackten Paares tatsächlich zu verschmelzen. Doch wer die Chance nutzt, das frühe Bronze-Exemplar zu umschreiten, bemerkt unschwer, wie sich der Mann gegen die Zärtlichkeit regelrecht wehrt. Die Distanz der Münder, die hart angespannten Rückenmuskeln, die fast zur Kralle gekrampften Zehen des Mannes und seine Hand, die die Berührung mit dem Oberschenkel der Frau nicht wagt: Einen solchen Kuss kann es nicht geben!
Kein Wunder, denn Rodin meinte mit seinem Werk zunächst das unglücklich liebende Paar »Paolo und Francesca« aus Dantes Göttlicher Komödie. Zum gefühligen Erotik-Evergreen »Der Kuss« mutierte das Meisterwerk - mit Billigung des Künstlers - erst in den Folgejahren unter den Händen der von Rodin lizenzierten, geschäftstüchtigen Gießerei. Schimmernde Bronze und glatter Marmor polierten Widersprüche und Abgründe menschlicher Sexualität nun einfach weg.
Zu Rodins Lebzeiten durften die erotischen Werke nur hinter Vorhängen erwachsenen männlichen Ausstellungebesuchern gezeigt werden. Dem Künstler gelang es in zarten Aquarellen oder kühner Bildhauerei souverän, die Grenze zur Abstraktion zu streifen.

Artikel vom 26.01.2007