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Das Ganze ist doch mehr
als die Summe der Teile

Tagung über »emergente Phänomene« und Reduktion


Bielefeld (sas). Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile: Es kann »höherstufige« Eigenschaften als die zugrundeliegenden Elemente besitzen. Die Wissenschaft spricht in diesem Fall von Emergenz. Und weil emergente Phänomene allgegenwärtig sind - simples Beispiel: der Flug eines Vogelschwarms in V-Form, was ein einzelner Vogel logischerweise nicht schafft, - werden sie von Soziologen, Biologen, Physikern, Philosophen, Neuro- und Wirtschaftswissenschaftlern diskutiert.
»Emergenz, Reduktion und die Erklärung komplexer Strukturen« ist das Thema einer Tagung, die heute im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität zuende geht, die Begriffe schärfen und Positionen verdeutlichen wollte. Organisiert und geleitet wurde sie von den Bielefelder Soziologen Dr. Annette Schnabel und Dr. Jens Greve.
»In der Soziologie gibt es verschiedene Ansätze, soziale Phänomene zu betrachten«, erläutern sie. Man könne die individuelle Perspektive einnehmen oder eben übergeordnete Erklärungen suchen. Und diese unterschiedliche Sicht wird zu unterschiedlichen Herangehensweisen führen, zu anderen Fragestellungen, Hypothesen und Datenquellen.
Am Beispiel führt Greve aus, was gemeint ist: »Wenn wir über Scheidungsraten diskutieren, können wir das Individuum fragen, was ursächlich für die Trennung war. Ebenso aber können wir über Phänomene wie die Verstädterung, Verlust von Werten, die Individualisierung oder materielle Unabhängigkeit nachdenken, also über gesellschaftliche Bedingungen und Prozesse.« Daneben gibt es in der Soziologie eine vermittelnde Position, die die großen gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet und dabei die individuellen Beweggründe analysiert.
Schnabel und Greve sind Anhänger einer reduktionistischen Sicht: »Haltungen und Überzeugungen von Parteien oder Institutionen basieren letztlich immer auf individuellen Ansichten und Einflüssen.« Sie weisen dem Einzelnen eine große Rolle zu. Damit befinden sich Greve und Schnabel in der Nähe der Neurophysiologie und Psychologie. »Allerdings interessiert uns nicht das Individuum, sondern seine Entscheidungen!« Diese wiederum lassen sich in der Regel typisieren.
Relevant ist die Frage nach der Emergenz auch in der Diskussion zwischen Philosophie und Naturwissenschaften über den freien Willen des Menschen oder das Bewusstsein. Das beruht letztlich auf neuronalen Vorgängen, auf chemischen oder physikalischen Reaktionen im Gehirn, die für sich genommen eben nicht mehr sind als dies und zu komplexen Gedanken führen.
»Emergenzen spielen in den verschiedenen Disziplinen also eine unterschiedliche Rolle.« Wenn der Soziologe mithin die Überzeugung eines Einzelnen für elementar hält, wird sie für den Philosophen womöglich emergent, da Folge komplexer Vorgänge im Gehirn, sein. Womöglich, räsoniert Schnabel, gibt es in der Soziologie gar keine Emergenz, und alles ist Psychologie. In der es allerdings Emergenzen gibt. »Positionen variieren aber teilweise«, gesteht Greve schmunzelnd zu. Oft genug in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Diskussionen und Stimmungen - letztlich also als Folge emergenter Phänomene?

Artikel vom 26.01.2007