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Sie war von dem Ladenbesitzer böse angefahren worden, weil sie die Einladungskarten angefasst hatte, dabei war sie ganz vorsichtig gewesen, hatte nichts kaputt gemacht und auch keine Fettflecken hinterlassen. Der Laden war voller Menschen gewesen, die Schutz vor dem Regen gesucht hatten. Es hatte wirklich in Strömen gegossen, und Janies ganze Hoffnung war, dass der Mann bei einem so scheußlichen Wetter einfach nicht hatte vor die Tür gehen wollen. Vielleicht hatte er auch geglaubt, sie, Janie, würde bestimmt nicht kommen. Aber natürlich konnte es auch sein, dass er sauer war, weil sie ihn in der Woche davor versetzt hatte. Schließlich wollte sie etwas von ihm, nicht umgekehrt.
Als sie gegen fünf Uhr noch immer vor den Karten gestanden und mit den Tränen gekämpft hatte, war dem Ladenbesitzer der Kragen geplatzt.
»Hör mal, mein Fräulein, mir reichtÕs jetzt«, sagte er gereizt. »Ich bin hier kein öffentlicher Wartesaal für Kinder, die nichts mit sich anzufangen wissen. Entweder du kaufst jetzt etwas, oder du verschwindest. Aber ein bisschen plötzlich!«

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ie hatte ihr ganzes Taschengeld mitgebracht. Da sie nicht viel bekam - und nicht regelmäßig, eigentlich nur dann, wenn Mum etwas übrig und zudem gute Laune hatte, und beides war selten der Fall -, besaß sie insgesamt nur ein knappes Pfund, und das reichte gerade für fünf Karten. Sie wollte aber mindestens fünfzehn Freunde einladen. Andererseits war es am Ende überhaupt Unsinn, auch nur eine einzige Karte zu kaufen, denn wie es aussah, ließ sich ihr Wohltäter ja nicht mehr blicken, und sie würde das Fest gar nicht feiern können. Bei dem Gedanken waren ihr schon wieder die Tränen in die Augen geschossen, und der Ladenbesitzer hatte ausgesehen, als werde er sie gleich höchstpersönlich hinaus in den Regen setzen. Ohne länger nachzudenken, hatte sie geflüstert: »Ich möchte fünf Karten, bitte!«
Zu Hause hatte sie die Karten ganz hinten in ihre Schreibtischschublade gelegt, aber sie musste sie immer wieder hervorholen und ansehen. Die Verlockung, die ihr der fremde Mann angeboten hatte, war zu groß, sie konnte die Hoffnung, ihr Traum würde sich erfüllen, noch nicht aufgeben. Sie war auch am Dienstag zu dem Laden gelaufen, denn vielleicht hatte es wirklich am Regen gelegen, dass der Mann nicht gekommen war, und er würde nun einen Tag später erscheinen, aber er ließ sich nicht blicken. Sie hatte diesmal vor dem Geschäft herumgelungert, denn nun hatte der Besitzer sie auf dem Kieker, und sie traute sich nicht wieder hinein. Zumal ohne einen einzigen Penny in der Tasche. Auch heute, an diesem Mittwoch, war sie wieder dort gewesen, aber wiederum vergeblich. Eigentlich konnte sie nur auf den nächsten Montag hoffen. Das war dann schon der vierte September. Knapp zwei Wochen später hatte sie bereits Geburtstag.
Selbst ihrer Mutter, die stets in ihre eigenen düsteren Gedanken versunken war, fiel beim Abendessen auf, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte sie. »Du siehst ja aus wie drei Tage Regenwetter!«
»Ich weiß auch nichtÉ ichÉ«
»Bist du krank?« Doris Brown legte ihre Hand auf Janies Stirn. »Fieber hast du nicht«, stellte sie fest.
Janie erschrak; Mum durfte auf keinen Fall glauben, sie sei krank, sonst durfte sie die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen.
»Nein, mir gehtÕs gut«, behauptete sie, »ich bin nur traurig, weil die Ferien nächste Woche vorbei sind.«
»Na, du hast doch jetzt wirklich lange genug herumgegammelt! Es wird Zeit, dass du wieder arbeitest. Sonst kommst du noch auf dumme Ideen!«
»Hm«, machte Janie. Sie kaute auf ihrem Sandwich herum. Mum machte gute Sandwiches, mit Schinken, Gewürzgurken und Mayonnaise, und für gewöhnlich aß Janie sie besonders gern. Aber an diesem Tag war ihr völlig der Appetit vergangen. Sie überlegte, ob sie einen Vorstoß wagen sollte.
»Ich habe ja bald Geburtstag«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte Doris, »und wenn du jetzt mit irgendwelchen überspannten Wünschen kommst, muss ich dir leider gleich sagen: Schlag sie dir aus dem Kopf! Das Geld reicht mal wieder vorn und hinten nicht.«
»Oh - ich habe eigentlich gar keinen Wunsch!«, erwiderte Janie hastig.
Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre aber mal etwas ganz Neues!«
»Na ja, einen einzigen Wunsch hätte ich schon, aber es ist nicht direkt ein GeschenkÉ also, keines, das du im Laden kaufen kannst.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Ich würde so gern eine Party feiern, Mum. Meine Freunde einladen undÉ«

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hre Mutter ließ sie nicht aussprechen. »Schon wieder! Das Thema hatten wir doch erst letztes Jahr. Und das Jahr davor auch!«
»Ich weiß, aberÉ Mein Geburtstag ist dieses Jahr an einem Sonntag. Du müsstest dir nicht freinehmen oder soÉ und wir könnten am Samstagnachmittag, wenn du zu Hause bist, alles vorbereiten, undÉ«
»Und du meinst, dieses Geschenk kostet kein Geld? Wenn du jede Menge Kinder einlädst und ich sie durchfüttern muss?«
»Wir könnten den Kuchen doch selber backen.«
»Janie!« Doris legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Janie sah die feinen blauen Adern unter der weißen Haut an Mums Schläfe pochen. Über dem Ohr zogen sich graue Strähnen durch ihre blonden Haare, obwohl Mum noch ziemlich jung war. Sie sah so müde und abgekämpft aus, dass es Janie plötzlich ganz klar wurde: Es nützte nichts. Sie konnte bitten und betteln so viel sie wollte. Mum würde es nicht erlauben. Mum hatte vielleicht wirklich nicht die Kraft dafür.

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oris öffnete die Augen wieder und sah ihre kleine Tochter an. Sie wirkte plötzlich viel weniger gereizt und ungeduldig als sonst. Sie hatte fast etwas Weiches an sich.
»Janie, es tut mir leid, aber ich schaffe das nicht«, sagte sie leise. »Es tut mir wirklich leid. Dein Geburtstag ist ein ganz besonderer Tag, auch für mich. Aber ich schaffe es nicht. Ich bin zu müde.«
Sie sah so traurig und erschöpft aus, dass sich Janie zu versichern beeilte: »Das macht nichts, Mummie. Ehrlich, es ist nicht so schlimm.«

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oris wandte sich wieder ihrem Sandwich zu. Das Gespräch war nicht zu Janies Gunsten verlaufen, und dennoch schöpfte sie Hoffnung. Mum hatte so traurig ausgesehen, dass Janie den Eindruck hatte, sie litt wirklich darunter, ihrer Tochter deren sehnsüchtigen Wunsch nicht erfüllen zu können. Und das wiederum bedeutete, dass sie vielleicht nichts dagegen haben würde, wenn Janie die Party im Garten des fremden Mannes feierte. Sie konnte damit ihr Kind glücklich machen, ohne auf Kräfte zurückgreifen zu müssen, die sie nicht hatte.
Wichtig war es jetzt umso mehr, den geheimnisvollen Fremden wiederzufinden.
Den ganzen Abend über zerbrach sich Janie den Kopf, wie sie es anstellen konnte, ihn noch einmal zu treffen.


Donnerstag, 31. August
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urz hatte er sogar überlegt, eine rote Rose mit an den Bahnhof zu nehmen. Für gewöhnlich hatte er wenig romantische Ambitionen, aber es ging ihm darum, Virginia zu zeigen, wie sehr er sich über ihr Kommen freute. Und wie sehr er es zu schätzen wusste, dass sie einen so großen Sprung über ihren Schatten tat, um ihn zu unterstützen. Er hatte sich dann doch dagegen entschieden, weil er sich in seinem Alter und nach neun Jahren Ehe etwas albern vorgekommen wäre, und auch weil er fürchtete, sie könne die Geste als unehrlich oder berechnend empfinden. Vielleicht war es am besten, so normal wie möglich aufzutreten. Am Ende beruhigte es sogar ihre Nerven am ehesten, wenn er wenig Aufhebens um die ganze Angelegenheit machte. Wenn er so tat, als sei alles ganz normal.

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rotzdem war er eine halbe Stunde zu früh am KingÕs-Cross-Bahnhof. Er hätte es schön gefunden, wenn die Sonne geschienen und London in ein freundliches Licht getaucht hätte, aber der August verabschiedete sich in grauen Farben, und der September würde wohl ebenso grau beginnen. Der Himmel war voller Wolken, ganz selten einmal blitzte irgendwo ein kleines Stück Blau hindurch. Aber wenigstens regnete es nicht.
Weil er noch so viel Zeit hatte bis zur Ankunft des Zuges, trank er einen Kaffee in einem Stehimbiss und beobachtete die Menschen, die an ihm vorüberströmten. Er mochte Bahnhöfe. Und Flughäfen. Er mochte Orte, die einen Aufbruch signalisierten, Bewegung und eine gewisse Hektik und Eile ausstrahlten. Begriffe, die ihm besonders in seine augenblickliche Lebensphase zu passen schienen. Er befand sich selbst im Aufbruch, wollte vorankommen, wollte weiterkommen. Das war nicht immer so gewesen. Lange Jahre hatte er geglaubt, es reiche ihm völlig, die ererbte Bank weiterzuführen, den Reichtum seiner Familie zu erhalten und sich möglichst so geschickt anzustellen, dass er ihn noch mehrte. Als er Virginia heiratete, als Kim geboren wurde, war ihm die Familie als das Zentrum seines Lebens erschienen, wichtiger als alle beruflichen Möglichkeiten und Vorstellungen.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.02.2007