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Mühevoll versuchte sie zu ergründen, woraus er sich zusammensetzte. Bohnerwachs. Desinfektionsmittel. Verkochtes Essen.
Ich möchte hier nicht sein, dachte sie.
Dann wandte sie langsam den Kopf zur Seite. Sie sah einen Mann an ihrem Bett sitzen. Braungebrannt, dunkelhaarig. Er trug ein T-Shirt, das ihm zu eng war um die breiten Schultern.
Er musterte sie, kühl und emotionslos. Sie wusste plötzlich, dass
es Nathan war, dass er ihr Mann war.
»Ich bin Livia Moor«, sagte sie leise.
Er neigte sich nach vorn. »Die ersten Worte seit Tagen«, sagte er.
Livia nahm zwei Frauen wahr, die, in Morgenmäntel und Pantoffeln gekleidet, ein Stück hinter Nathan standen und ihn mit ihren Blicken förmlich verschlangen. Im Übrigen schienen sie entschlossen, sich kein Wort, keinen Moment von der sich vor ihnen abspielenden Szene entgehen zu lassen.
Ganz allmählich begann sich ihr Gehirn mit Bildern zu füllen: Nathan und sie. Ein Haus mit einem Garten. Menschen, die durch alle Räume zogen, sich die besten Stücke aussuchten. Dann das Schiff. Sie warf ihren Koffer über die Reling, hörte ihn auf dem Deck aufprallen. Sie balancierte hinterher, musste die Zähne zusammenbeißen, weil die Tränen in ihre Augen drängten. Nathan, der die Segel hisste. Der Wind spielte in seinen Haaren. Der Tag war klar und kühl. Die Wellen schwappten klatschend gegen die Bordwand.
Die Wellen. Das Meer.
Sie setzte sich ruckartig auf. »Unser Schiff!« Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor. »Unser Schiff ist untergegangen!«
Nathan nickte. »Oben vor den Hebriden.«
»Wann?«
»Am siebzehnten August.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Der dreißigste August.«
»DannÉ ist das gerade erst passiertÉ«
Er nickte wieder. »Ziemlich genau vor zwei Wochen.«
»Wo bin ich?«, fragte sie.
»In einem Krankenhaus. In KingÕs Lynn.«
»KingÕs Lynn?«
»Norfolk. England.«
»Wir sind immer noch in England?«
»Du warst nicht transportfähig. Es war grauenhaft, dich überhaupt bis hierher zu bringen. Du warst kaum noch bei Bewusstsein. Streckenweise müssen die Menschen um uns herum gedacht haben, ich schleppe eine Halbtote mit mir herum.«
Eine HalbtoteÉ Ihr Blick irrte in dem häßlichen Zimmer umher. Sie fing die frustrierten, feindseligen Blicke der beiden Frauen in den Morgenmänteln auf. Nathan und sie sprachen deutsch miteinander, vermutlich konnten die beiden kein Wort verstehen. Waren sie deshalb so verärgert?
»Was war los mit mir?«

E
r lächelte sanft. Sie entsann sich dieses Lächelns. Es war das Lächeln, in das sie sich viele Jahre zuvor verliebt hatte. Inzwischen kannte sie es gut genug, um leise zu schaudern, wenn er es ihr schenkte.
»Du hast einen Schock erlitten, als das Schiff sank. Es hätte dich fast mit nach unten gezogen. Wir trieben die ganze Nacht auf der Rettungsinsel im Meer. Du bist seither nicht mehr dieselbe.«
Sie versuchte den Sinn seiner Worte zu erfassen. »Willst du sagen, ich binÉ ich bin verrückt?«
»Du leidest unter den Nachwirkungen eines Schocks. Das ist nicht das Gleiche wie verrückt. Du hattest aufgehört zu essen und zu trinken. Du warst völlig dehydriert und hast wirres Zeug erzählt. Sie haben dich hier künstlich ernährt.«
Langsam ließ sie sich in das Kissen zurücksinken. »Ich will nach Hause, Nathan.«
Er lächelte abermals sanft. »Wir haben kein Zuhause mehr, Liebes.«
Er sagte das in dem gleichen Ton, in dem andere sagen würden: »Wir haben keine Butter mehr im Kühlschrank, Liebes.« Wie nebenhin, völlig harmlos. Als gebe es keine Tragödie, die hinter seinen Worten lag.
Sie versuchte, die ganze Grausamkeit in seinen Worten nicht zu sich durchdringen zu lassen.
»Wo wohnst du?«, fragte sie. »Bei den Quentins. Sie haben hier in der Nähe ein Haus und waren so freundlich, mir Unterkunft zu gewähren. Du erinnerst dich doch an die Quentins?«
Die Quentins fielen ihr tatsächlich erst in diesem Moment wieder ein. Ihr Verstand, ihr Gedächtnis arbeiteten noch immer sehr langsam.
»Virginia«, sagte sie mühsam, »ja, ich weiß. Virginia Quentin war sehr freundlich zu mir.«
Sie hatte ihr Wäsche und Kleidung gebracht und hatte sie in ihrem Ferienhaus wohnen lassen. Das gemütliche Häuschen mit dem gemauerten Kamin und den hölzernen MöbelnÉ Und dem großen Garten, über dessen flach gedrücktes, gelbliches Gras der Wind fegteÉ Livia konnte sich dort am Fenster stehen und über das Meer starren sehen. Dann riss plötzlich der Faden. Zwischen dem kleinen Fenster mit seinem herrlichen Blick und diesem scheußlichen Krankenhauszimmer lag keinerlei Erinnerung.
»Ich kann dort wohnen, bis es dir besser geht und du wieder reisefähig bist«, fuhr Nathan fort.
Livia bemühte sich, den bohrenden Blicken der beiden fremden Frauen auszuweichen. »Ich möchte nicht hier bleiben«, flüsterte sie, obwohl die beiden sie offensichtlich ohnehin nicht verstanden, »es ist furchtbar. Die beiden Frauen können mich nicht ausstehen.«
»Schatz, du bist seit etwa zehn Minuten zum ersten Mal seit fast einer Woche wieder bei vollem Bewusstsein. Du kennst die beiden Frauen überhaupt nicht. Wie willst du wissen, ob sie dich mögen oder nicht?«
»Ich kann das spüren.« Ihr stiegen die Tränen in die Augen. »Und es riecht hier so schrecklich. Bitte, Nathan, ich möchte nicht bleiben!«
Er nahm ihre Hand. »Der Arzt hat mir gerade gesagt, dass er dich frühestens am Freitag entlässt. Danach sollten wir uns schon richten.«
»Am FreitagÉ Welcher Tag ist heute?«
»Heute ist Mittwoch.«
»ÜbermorgenÉ«
»Das ist doch nicht mehr lange. Das kannst du aushalten.«
Sie hatte das Gefühl, es keine zehn Minuten mehr auszuhalten, aber sie konnte Nathans Unerbittlichkeit spüren. Wenn sie etwas ganz genau an ihm kannte, dann war es die stählerne Härte, die hinter seinem Lächeln lag. Nathan würde nicht hingehen und mit dem Arzt verhandeln und debattieren und seine Frau am Ende ein oder zwei Tage eher mitnehmen dürfen. Er würde sie so lange hier liegen lassen, wie es nur ging.
Und dannÉ

H
offnungslos dachte sie, dass es kein und dann gab. Sie hatten kein Zuhause mehr. Alles, was sie noch besessen hatten, war das Schiff gewesen, und das lag auf dem Meeresgrund. Sie hatten kein Geld, sie hatten nichts.
Die Tränen quollen ihr nun aus den Augen, sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Sie wusste, dass er es hasste, wenn sie weinte, und er wäre nun sicher sehr barsch geworden, wenn sie allein gewesen wäre. So aber musste er sich zusammennehmen.
»Du leidest unter den Nachwirkungen eines schweren Schocks«, wiederholte er geduldig. »Ein Schock, der zudem noch viel zu spät diagnostiziert und behandelt wurde. Es ist klar, dass du dich jetzt sehr elend fühlst und das ganze Leben in düsteren Farben siehst. Das wird besser, glaube mir.«
»Aber«, ihre Stimme war nur ein Hauch, »wohin sollen wir gehen?«
»Wir können erst einmal bei den Quentins wohnen.«
»Aber doch nicht ewig!«
»Nicht ewig, natürlich nicht.« Jetzt schwang Ungeduld in seiner Stimme. Er war verärgert. Er wollte über dieses Thema
nicht sprechen. »Wir werden dann schon einen Weg finden.«
»Wie soll denn der Weg aussehen?«, fragte sie.
Er erhob sich. Er würde nicht länger mit ihr sprechen. Das Schlimme für sie war, dass er jederzeit gehen konnte. Sie musste hilflos zurückbleiben.
»Nathan, kannst du nicht noch ein bisschenÉ«
Er tätschelte ihre Hand. Die Geste war alles andere als liebevoll. »Schatz, ich habe mir das Auto von Virginia Quentin geliehen. Sie muss es wieder zurückhaben.«
»Ein paar Minuten nur. Bitte!«
»Außerdem stehe ich im Parkverbot. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, riskiere ich einen Strafzettel, und für denÉ« Er lächelte wieder. Jungenhaft und charmant. Oh, sie wusste, wie Frauen dahinschmolzen unter diesem Lächeln! »Für den fehlt uns jetzt auf jeden Fall das Geld!«, vollendete er seinen Satz.
Sie fand das nicht komisch. Früher hätte sie sich trotzdem ein Lächeln abgerungen, um ihn zufriedenzustellen, jetzt fühlte sie sich zu krank und zu erschöpft.
»Kommst du morgen wieder?«, fragte sie.
»Klar. Und du schläfst jetzt noch ein bisschen, ja? Du musst deine Nerven schonen, und da ist genügend Schlaf sehr wichtig.«
Und Liebe, dachte sie, während sie ihm nachsah. Die Tränen liefen ihr immer noch über das Gesicht, und die beiden Weiber glotzten sie an. Sie wandte sich ab, starrte wieder zur Decke.
Kein Zuhause, kein Zuhause, hämmerte es in ihrem Kopf, ein grausames, bösartiges Stakkato. Kein Zuhause, keinzuhausekeinzuhausekeinzuhauseÉ
4
Janie hätte am liebsten den ganzen Tag nur geweint. Bis um fünf Uhr hatte sie sich am Montag in dem Schreibwarenladen herumgedrückt, und der fremde Mann hatte sich nicht blicken lassen.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.02.2007