15.02.2007
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Er sah auf seine Uhr, es war erst halb sechs, und er pflegte nie vor sechs Uhr alkoholische Getränke zu sich zu nehmen, aber er beschloss, am heutigen Tag eine Ausnahme zu machen. Schließlich hatte er etwas zu feiern. Denn so sehr das Glück ihm hold war, so hatte er doch fast nicht zu hoffen gewagt, dass es so weit gehen würde, ihm sogar Virginia nach London zu schicken. Seit sie ihm am gestrigen Morgen telefonisch mitgeteilt hatte, sie werde ihn zu der Party am Freitag begleiten, schwankte er zwischen Euphorie und der bohrenden Sorge, sie könnte es sich anders überlegen.
Er hatte sie am Dienstagabend wieder angerufen und auch heute früh. Er hatte sie nicht bedrängen, sich aber doch vergewissern wollen. Er hatte über das Wetter geredet, über Kim, ein bisschen über Politik. Das Thema Nathan Moor, sosehr es ihm auf der Seele brannte, hatte er ausgelassen, denn er hatte den Eindruck, dass ihn Virginia in diesem Punkt nicht verstand und dass sie sich von ihm in die Enge getrieben fühlte. Er fand es höchst befremdlich und irritierend, dass dieser seltsame Schiffbrüchige seit nunmehr fünf Tagen in Ferndale wohnte, allein mit Virginia, denn offenbar war auch Kim zwei Nächte lang fort gewesen, und die unglückliche Livia hatte man ins Krankenhaus gesteckt. Es war nicht so, dass er gefürchtet hätte, zwischen Nathan Moor und Virginia könnte sich etwas entwickeln, das seine Ehe bedrohte, denn er hatte ein tiefes und gefestigtes Vertrauen in Virginia, und es war absolut unvorstellbar für ihn, sie könnte aus dem Leben mit ihm und Kim ausbrechen. Aber er konnte den Kerl nicht ausstehen, er war ihm auf den ersten Blick zuwider gewesen. Er traute ihm nicht über den Weg, hatte sofort den Eindruck gehabt, ihm höchstens ein Drittel von allem, was er erzählte, abnehmen zu können. Und was nun geschah, schien ihm seine unguten Gefühle nur zu bestätigen. Der Typ klebte wie eine Zecke an Virginia. War ihr sogar nach Norfolk nachgereist, hatte offenbar irgendwie ihre Adresse herausgefunden und sich schon wieder bei ihr eingenistet. Ließ sich vermutlich von ihr bekochen und schnorrte jede Menge Geld. Erzählte ihr sonst etwas von seiner kranken Frau und hatte wahrscheinlich schon wieder jede Menge Ausreden parat, weshalb er keinesfalls nach Deutschland zurückkehren konnte.
Blieb die Frage, weshalb sich die intelligente Virginia derart ausnutzen ließ.
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Was hätte er sagen sollen? Mit welcher Begründung hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen sollen?
Und heute ist sie schon froh, wenn sich Schmarotzer bei ihr einnisten, dachte er, nur damit überhaupt jemand da ist.
Insofern konnte jedoch der Freitag ein guter Anfang sein. Wenn sie sich überwand und dann vielleicht doch Gefallen an Aktivitäten dieser Art fand, würde sie vielleicht in Zukunft öfter nach London kommen. Er meinte, dass das nur gut für sie sein konnte.
Sie hatten also am Telefon über dies und das gesprochen, und nur ganz am Ende hatte er jedesmal gesagt: »Ich freue mich so, dass du kommst!«
»Ich freue mich auch«, hatte sie erwidert. Es klang nie überzeugend, aber sie schien guten Willens zu sein, ein wenig Gefallen an dem bevorstehenden Ereignis zu finden.
Dann hatte sie ihm erzählt, dass ein weiteres Kind aus KingÕs Lynn ermordet aufgefunden worden war.
»Das ist schon das zweite, Frederic! Ich frage mich wirklich, ob es gut ist, Kim gerade jetzt alleine zu lassen!«
Ihm war himmelangst geworden. »Virginia, so schrecklich es klingt, aber irgendwo werden immer Kinder umgebracht. Du könntest nie mehr fort, wenn es danach ginge.«
»Es werden nicht immer Kinder genau in unserer Region umgebracht.«
»Du weißt, wie sehr die Walkers unsere Kim mögen. Sie lassen sie bestimmt keinen Moment aus den Augen.«
»Aber sie sind nicht mehr die Jüngsten, undÉ«
»Aber Tattergreise sind sie auch nicht. Virginia, es ist für Kims Entwicklung nicht gut, wenn ihre Mutter wie ein Schatten an ihr klebt. Willst du einen unselbstständigen, völlig verschüchterten Menschen aus ihr machen, der irgendwann keinen Schritt mehr ohne seine Mum tun kann?«
Er hörte sie seufzen. »Ist es so unverständlich, dass ich mich sorge?«, fragte sie.
»Nein. Aber in diesem Fall sorgst du dich umsonst. Glaube mir.«
»Ich werde kommen, Frederic«, sagte sie leise, »ich habe es dir versprochen.«
Ihm hätte es gut getan, wenn sie ein wenig mehr Enthusiasmus gezeigt hätte, aber wie die Dinge lagen, musste er sich damit begnügen, dass sie wenigstens bereit war, ihm ein Opfer zu bringen.
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Virginia sah leicht melancholisch aus wie immer, hatte sich jedoch um ein Lächeln bemüht. Es war nicht so, dass sie unglücklich gewirkt hätte. Aber auch nicht so, als hätte die Tatsache, dass sie gerade den Mann geheiratet hatte, den sie liebte, sie für einen Tag zum glücklichsten Menschen gemacht. Virginia bei ihrer Hochzeit war dieselbe wie immer: nicht traurig, nicht fröhlich. Sondern auf eine eigentümliche Art unberührt von allem, was mit ihr passierte, was um sie herum geschah. In sich abgekapselt, nach innen gewandt. Schon oft hatte ihn diese Eigenart mit Besorgnis erfüllt, und doch war es dieser Zug ihres Wesens, der ihn von Anfang an so stark zu ihr hingezogen hatte. Das Stille, Nachdenkliche, WeltabgewandteÉ Wer ihn kannte, hätte ihn nie als einen schüchternen Mann eingeschätzt, aber er wusste, dass er es Frauen gegenüber war. Traten sie allzu laut, zu lebhaft, zu kokett oder gar sexuell aggressiv auf, zog er sich zurück, überrumpelt und verunsichert. Mit Virginia war das anders gewesen; sie war ihm wie die Antwort erschienen auf seine tiefsten Wünsche, die er an das Leben hatte. Schön, intelligent, gebildet, zurückhaltend, überschattet von einer Melancholie, die ihm das Gefühl gab, ihr Beschützer zu sein, die Kraft, die sie durch ihr Leben geleitete. Es waren altmodische Gefühle, die er mit einer Partnerschaft, einer Ehe verband, aber er fand nicht, dass sie deshalb nicht legitim gewesen wären.
Er war zu klug, um nicht zu wissen, dass alles seinen Preis hat. Bei Virginia bezahlte er ihre Sanftheit mit ihrer Angst vor der Welt, aus der möglicherweise ihre völlige Unfähigkeit, die perfekte Gattin eines aufstrebenden Politikers zu sein, resultierte. Er wusste, dass es sie unglücklich und angespannt sein ließ, ihn am Freitag zu dem Fest begleiten zu müssen. Sie tat es, weil sie ihn liebte.
Während er ihr Bild ansah, dachte er plötzlich voller Schuldgefühle, dass er sie möglicherweise zu sehr unter Druck gesetzt hatte.
»Ich will, dass es dir gut geht«, sagte er leise zu dem Bild, und diese Worte entsprangen seinem tiefsten und aufrichtigsten Wunsch. »Ich mag dich nicht zu etwas zwingen, was du überhaupt nicht willst!«
Ihr angestrengtes, aufgesetztes Lächeln sagte ihm plötzlich mit grausamer Deutlichkeit, dass es ihm nicht einmal am Tag ihrer Hochzeit gelungen war, sie glücklich zu machen.
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Artikel vom 15.02.2007