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Herrgott, hör doch endlich mit dem blöden Karussell auf! Glaubst du, sie wärÕ jetzt nicht tot, wenn sie drei Runden auf dem dämlichen Ding herumgejuckelt wäre?«
Ich weiß es nicht, hatte Liz antworten wollen, aber sie hatte nicht mehr sprechen können, weil die Tränen sich nicht länger hatten zurückhalten lassen. Sie musste immer weinen, wenn es um das Karussell ging. Darum, dass sie Sarahs letzten Wunsch nicht erfüllt hatte. Seltsamerweise warf sie sich das mehr vor als die Tatsache, zu dem Kiosk gelaufen und ihre Tochter so lange allein gelassen zu haben.
Sie fand keinen Trost bei ihrer Mutter, aber das hatte sie eigentlich auch nicht erwartet. Es war nicht so, dass die grausame Ermordung ihrer Enkelin spurlos an Betsy Alby vorübergegangen wäre. Aber die verbitterte Frau versuchte auf ihre Weise, damit fertigzuwerden: Sie trank noch mehr Alkohol, und der Fernseher lief nun fast rund um die Uhr. Manchmal wurde Liz um drei Uhr morgens wach und hörte, dass ihre Mutter immer noch oder schon wieder vor der Glotze saß. Das war früher nicht der Fall gewesen. Nachts zumindest hatte Betsy, leise schnarchend, tief und fest geschlafen.

L
iz und ihre schreckliche Geschichte waren ausführlich durch die Presse gegangen, so dass sie eine gewisse Prominenz erlangt hatte und ohne Probleme bei zweien der Therapeuten auf ihrer Liste sofort einen Termin bekam. Die erste Praxis verließ sie jedoch geradezu fluchtartig, nachdem der Psychologe, ein sehr junger und idealistischer Mann, beharrlich auf ihrer, LizÕ, gestörten Vater-Beziehung herumritt, obwohl sich Liz an ihren Vater weder erinnern konnte noch den Eindruck hatte, ihre kurze Beziehung zu ihm sei es wert, analysiert zu werden. In der zweiten Praxis sollte sie sich auf ein Sofa setzen, den Therapeuten umklammern und so laut schreien, wie sie nur konnte. Sie hatte damit größte Schwierigkeiten, und der Therapeut schien das ziemlich bedenklich zu finden, aber Liz konnte nicht aus ihrer Haut heraus und hatte keine Lust, von nun an monatelang Woche für Woche den Urschrei zu üben und sich dabei an einem Mann festzuhalten, der säuerlich aus dem Mund roch und ständig unzufrieden mit ihr war.
Sie knüllte die Liste zusammen und warf sie in den Papierkorb.

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ber es trat ein, wovor der Arzt sie gewarnt hatte: Sie saß in der Wohnung und grübelte. Der Anblick ihrer Mutter reichte aus, um sie nachhaltig daran zu hindern, in ihrer Verzweiflung zum Alkohol zu greifen oder sich von der Dauerberieselung durch das Fernsehen verblöden zu lassen, aber es war auch nicht besser, den ganzen Tag aus dem Fenster zu starren und die Bilder aus Sarahs kurzem Leben an sich vorüberziehen zu lassen. Sarah als neugeborenes Baby, so warm und vertrauensvoll in den Arm ihrer ständig weinenden Mutter geschmiegt. Sarah, die ihre ersten wackeligen Schritte machte. Sarah, die ihre ersten Worte sprach. Sarah, die »Mummiiie!« brüllte, wenn sie auf dem Spielplatz beim Toben hinfiel. Und Mummie, die dannÉ ja, die eigentlich selten getröstet hatte. Die genervt gewesen war, geschimpft hatte. Die im Grunde jede Sekunde gehasst hatte, die ihr das Kind an Zeit für sich selbst gestohlen hatte. Und die dennoch nun begriff, dass es ein Band zwischen ihr und ihrer Tochter gegeben hatte, das stärker und inniger gewesen war, als sie geahnt hatte.
Sie fehlte ihr. Sarah fehlte ihr, in jedem Moment eines langen, langen Tages.
Könnte ich nur mit irgendjemandem sprechen, dachte Liz, einfach nur sprechen. Über das, was war, und über die vielen Fehler, die ich gemacht habe.
An diesem Morgen nun, an dem sie überlegte, ob sie nicht doch ihren Platz an der Kasse in der Drogerie wieder einnehmen und sich damit ablenken sollte, kam ihr noch ein anderer Einfall. Voller Entsetzen hatte sie am Vortag von der Ermordung der kleinen Rachel Cunningham aus KingÕs Lynn gehört, jetzt am Morgen darüber in den Zeitungen, die sie sich gleich geholt hatte, gelesen. Für den heutigen Nachmittag war eine Pressekonferenz der Polizei angesetzt, aber schon jetzt spekulierte die Presse heftig über Parallelen zum Fall Sarah Alby.

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och war nicht öffentlich geworden, ob es sich um ein Sexualdelikt handelte, aber die Journalisten schienen das bereits vorauszusetzen.
Wer ist das nächste Opfer?, lautete eine Schlagzeile, und ein anderes Blatt fragte: Sind unsere Kinder noch in Sicherheit?
Überall war das Foto der kleinen Rachel abgebildet. Ein hübsches kleines Mädchen mit langen Haaren und einem offenen Lächeln.
Rachels Mutter, dachte Liz, weiß genau, wie man sich fühlt. Wenn ich mit ihr reden könnteÉ
Der Gedanke fraß sich fest. Zwar wusste sie, dass es wohl zu früh war, Mrs. Cunningham, die knapp vierundzwanzig Stunden zuvor von der Ermordung ihrer Tochter erfahren hatte, zu kontaktieren, aber sie fürchtete, dass es später nicht mehr so einfach sein würde. Über die Cunninghams würde nun das geballte Medieninteresse hereinbrechen, und über kurz oder lang würde keiner von ihnen mehr ans Telefon gehen, oder sie würden sowieso eine neue Nummer beantragen.
Sie holte das Telefonbuch und verzog sich mit dem Apparat in das kleine Zimmer ihres toten Kindes. Betsy saß vor dem Fernseher und bekam sowieso nichts mit. Liz blätterte im Telefonbuch. Es gab etliche Cunninghams, aber sie wusste aus der Zeitung, dass Rachels Vater Robert hieß. Sie fand einen
R. Cunningham und einen Cunningham, Robert und versuchte
es bei letzterem. Ihre Hände waren eiskalt.
Ich kann jederzeit einfach auflegen, dachte sie.
Es läutete ziemlich lange, und Liz wollte schon aufgeben, da meldete sich eine Männerstimme.
»Hallo?« Es war eine leise Stimme, vorsichtig und zurückhaltend.
»Mr. Cunningham?«
»Wer ist da?«
»Hier spricht Liz Alby.« Sie wartete, ließ ihm Zeit zu be
greifen, mit wem er redete.
»Oh«, sagte er schließlich, »Mrs. AlbyÉ«
Sie nahm ihren Mut zusammen. »Ich spreche doch mit dem Vater vonÉ von Rachel Cunningham?«
Sein Misstrauen war noch nicht besiegt. »Sie sind wirklich Liz Alby? Oder sind Sie von der Presse?«
»Nein, nein. Ich bin wirklich Liz Alby. IchÉ wollte Ihnen sagen, wieÉ wie sehr ich mit Ihnen fühle. Es tut mir so leid um Ihre Tochter.«
»Danke«, sagte er.
»Ich weiß, was Sie empfinden. Das hilft Ihnen nicht, schon klar, aber ich wollte es Ihnen trotzdem sagen.«
Seine Stimme klang unendlich müde. »Es hilft schon, Mrs. Alby. Auf eine bestimmte Weise hilft es.«

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an ist so fassungslos. Und man kann gar nichts Richtiges mehr tun. Mir geht es jedenfalls so. Ich kann den ganzen Tag über nichts tun.«
»Wir sind auch fassungslos«, sagte Robert Cunningham. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Meine Frau ist krank. Sie muss starke Beruhigungsmittel bekommen. Zeitweise ist sie kaum bei Bewusstsein.«
»Das ist schrecklich.« Liz dachte, dass sie sich das vielleicht auch wünschen würde. Manchmal das Bewusstsein zu verlieren. Es war gnädiger, als Therapeuten abzuklappern und Urschreie auszustoßen. »Ich wollte Ihnen noch sagenÉ also, falls Sie oder Ihre Frau einmal reden wollenÉ ich meine, mit jemandem, der das Gleiche erlebt hatÉ ich würde das jederzeit tun. Sie können mich immer anrufen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Alby. Im Moment ist zumindest meine Frau absolut nicht in der Lage zu reden, aber vielleicht späterÉ«
»Möchten Sie sich meine Nummer aufschreiben?«
»Ja. Gern.« Sie hörte ihn rascheln und kramen. »So«, sagte er, »diktieren Sie bitte.«
Sie gab ihm ihre Telefonnummer. Sie sagte ihm noch einmal, wie leid es ihr tat, was ihm zugestoßen war, und hatte den Eindruck, dass seine Stimme brach, als er sich verabschiedete.
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, starrte sie den Apparat an. Die Cunninghams taten ihr ehrlich leid, aber wenigstens waren sie zu zweit. Sie konnten sich aneinander festhalten. Es war noch schlimmer, wenn man niemanden hatte. Nur eine versoffene Mutter und einen Exfreund, dem das gemeinsame Kind immer nur eine drohende Last gewesen war.
Es gab niemanden, der sie in die Arme nahm. Niemanden, an dessen Schulter sie weinen konnte.
Sie blieb sitzen und betrachtete weiterhin den schweigenden, stummen Telefonapparat, wünschte sich verzweifelt, er würde läuten, und wusste doch, dass er das höchstwahrscheinlich nicht tun würde.
Grau und endlos lag der Tag vor ihr. Grau und ebenso endlos scheinend ihr Leben.

2
Frederic Quentin kehrte am späten Nachmittag in seine Wohnung zurück. Er hatte den Vormittag in der Bank in Terminen mit etlichen wichtigen Kunden verbracht, hatte dann ein Mittagessen mit einem Abgeordneten gehabt und sich anschließend zu einem Vier-Augen-Gespräch mit einem führenden Mitglied der Konservativen Partei getroffen. Er war müde, aber es war alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Überhaupt schien das Glück derzeit auf seiner Seite zu stehen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.02.2007