12.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Die Küchentür ging auf, und Kim kam herein. Sie trug ihren Schlafanzug, war barfuß und hatte das Telefon in der Hand.
»Daddy ist am Telefon!«, verkündete sie.
Virginia hatte das Läuten überhört. Sie war so vertieft gewesen in eine andere Zeit. Gern hätte sie noch herausgefunden, ob Kim ihrem Vater von Nathans Anwesenheit im Haus erzählt hatte, aber dafür blieb keine Zeit.
»Hallo, Frederic?«, fragte sie.
Er hatte am Vorabend nicht angerufen. Sie ihn auch nicht. Das Thema Dinnerparty stand allzu problematisch zwischen ihnen.
»Guten Morgen«, sagte Frederic. Seine Stimme klang kühl. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Ja. So einigermaßen. IchÉ«
»Ich wollte dich gestern Abend nicht weiter bedrängen, deshalb habe ich mich nicht mehr gemeldet.«
»Frederic, ichÉ«
»Kim hat mir gerade etwas sehr Seltsames erzählt«, fuhr Frederic fort. »Stimmt es, dass dieser Moor aus Deutschland bei euch wohnt?«
Es war klar gewesen, dass Kim plappern würde. Virginia hatte nur gehofft, dass es nicht so schnell geschehen würde.
»Ja«, sagte sie, »übergangsweise. ErÉ«
»Seit wann?«
Sie mochte ihren Mann nicht anlügen. Nicht wegen Nathan und vor allem nicht in dessen Gegenwart.
»Seit Samstag.«
Sie konnte hören, wie Frederic am anderen Ende der Leitung den Atem einsog. »Seit Samstag? Und du sagst mir kein Wort?«
»Ich weiß ja, wie du dazu stehst.«
»Was ist mit seiner Frau?«
»Die liegt hier in KingÕs Lynn im Krankenhaus. Sie wird wegen ihres Schocks behandelt. Das war oben auf Skye nicht möglich.«
»Aha. Und in Deutschland ist das auch nicht möglich?«
Was sollte sie dazu sagen? Sie verstand es schließlich selbst nicht.
»Ich wollte dir eigentlich etwas sehr Schönes mitteilen«, sagte sie hastig. Das entsprach nicht der Wahrheit: Sie hatte ihm keineswegs schon sagen wollen, dass sie nach London kommen würde. Wenn er es wusste, gab es für sie keine Möglichkeit mehr zum Rückzug. Dann war sie gefangen.
»Ich habe mir gestern Mittag ein neues Kleid gekauft«, fuhr sie rasch fort. »Weil ich beschlossen habe, dich am Freitag zu der Party zu begleiten.«
Nun herrschte erst einmal Schweigen in der Leitung.
Nach etlichen Sekunden fragte Frederic zutiefst überrascht: »Wirklich?«
»Ja. Und ichÉ« Sie überlegte kurz, ob sie sich noch weiter nach vorn wagen sollte, aber auf einmal war ihr ganz klar, dass nun alles schnell gehen musste: Sie musste schnell bei Frederic sein. »Ich komme bereits am Donnerstag, wenn dir das recht ist. Übermorgen also schon. Ich denke, das wird weniger stressig, als wenn ich mich am Freitag erst auf den Weg mache.«

W
iederum hatte sie ihn so sehr erstaunt, dass er nicht sofort reagieren konnte. Als er dann jedoch zu sprechen begann, klang seine Stimme so erfreut und glücklich, dass sich Virginia beinahe schämte. Es ging um eine Lappalie, und ihr Mann konnte sein Glück kaum fassen.
»He«, sagte er leise, »du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue.«
»Ich mich auch, Frederic«, log sie. Sie wich Nathans Blick aus. Er merkte genau, wie angespannt und unecht sie klang.
»Du kommst mit dem Zug?«
»Ja. Ich werde dir die Zeiten noch durchgeben.«
Er freute sich wirklich. Sie konnte es an seiner Stimme hören. Und er freute sich nicht nur wegen der Party, auch das spürte sie. Er freute sich auf sie.
»Wie wunderbar, dass du schon einen Tag früher kommst. Wir werden irgendwo hingehen, nur wir beide. Ein schönes EssenÉ und dann vielleicht ein Nachtclub, was meinst du? Wir haben seit Ewigkeiten nicht mehr getanzt.«
»Das istÉ das ist eine gute Idee.« Sie hoffte, er würde aufhören, Pläne zu schmieden. Sie wollte nicht schon wieder Kopfschmerzen bekommen.
»Kim bleibt bei Grace?«, erkundigte er sich.
»Ich habe mit Grace noch nicht gesprochen, aber das wird kein Problem geben. Grace ist ja verrückt nach der Kleinen.«
»Dann kann nichts mehr dazwischenkommen«, sagte Frederic. Es klang beschwörend.
Bis ich am Donnerstag in London aus dem Zug steige, dachte Virginia, wird er nervös sein.
Ihr Hals fühlte sich eng an.
»Ich melde mich«, sagte sie hastig.
»Virginia«, begann Frederic, aber er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ach, nichts«, sagte er dann nur. »Pass auf dich auf. Ich liebe dich.«
Sie wusste, dass er nach Nathan Moor hatte fragen wollen. Wie sie es anstellen würde, ihn bis Donnerstag aus dem Haus zu komplimentieren. Aber offenbar erschien ihm das Thema zu heikel, und im Augenblick musste es für ihn in erster Linie darum gehen, die Stimmung seiner Frau nicht zu gefährden. Nathan Moor war als Problem zweitrangig.

Z
udem sagt er sich wohl, dass ich schon nicht so wahnsinnig sein kann, ihn hier wohnen zu lassen, während ich fort bin, dachte sie, während sie das Telefonat beendete. Das würde er vielleicht nicht einmal mir zutrauen.
»Ich darf zu Grace und Jack?«, rief Kim und fing an, auf einem Bein zu hüpfen. »Stimmt das, Mum?«
»Wenn die beiden es erlauben - ja.«
Kim jubelte. Grace backte immer Kuchen, Kim durfte viel mehr fernsehen als daheim, und sie bekam heiße Schokolade, soviel sie nur wollte. Sie war erst ein- oder zweimal über Nacht dort gewesen und hatte es toll gefunden.
»Sie fahren übermorgen nach London?«, fragte Nathan jetzt.
»Ja.« Sie holte tief Luft. »Das bedeutet, Sie müssen sich ein anderes Quartier suchen, Nathan. Ab Donnerstag.«
»Klar«, sagte er, »ab Donnerstag.«
Sie sahen einander an. Seine Augen teilten ihr etwas mit, das ihr plötzlich das Rot in die Wangen trieb. Ihr wurde heiß am ganzen Körper; sie strich sich mit einer hilflosen Geste die Haare aus der Stirn. Er hatte etwas an sich, was sie in Worten kaum ausdrücken konnte. Vielleicht war es die Intensität, die in allem lag, was er tat, in jedem Blick, in jedem Wort, in jeder noch so flüchtigen Berührung. Sexappeal, so hatten es Livias unerträgliche Zimmergenossinnen im Krankenhaus genannt. Zweifellos verfügte er über eine starke sexuelle Ausstrahlung. Wenn er einer Frau über den Rücken strich - sie musste plötzlich an die Situation im Wohnzimmer denken, als sie von Tränen und Migräne gepeinigt wurde -, hatte das fast etwas von einem Liebesakt.
»Mum, darf ich gleich zu Grace gehen und sie fragen?«, drängelte Kim.
Virginia lächelte. »Geh nur. Aber sag ihr, dass ich nachher auch noch einmal mit ihr spreche. Und zieh dir vorher etwas an!«
Kim sauste nach oben in ihr Zimmer.
»Sie wollen wirklich nach London fahren?«, fragte Nathan.
»Ja.« Sie bemühte sich um eine feste Stimme und einen klaren Blick und hatte dabei den Eindruck, dass ihr beides nicht sonderlich gut gelang. »Ich begleite meinen Mann zu einer Party.«
»Wie schön. Sie freuen sich bestimmt darauf?«
»Natürlich. Warum sollte ich das nicht tun?« Sie hatte plötzlich schreckliche Sehnsucht nach einer Zigarette. Nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, etwas, das ihr Ruhe gab. Der warme Rauch, das Nikotin, das ihren Körper entspannteÉ Wo hatte sie nur die Packung hingelegt, die sie neulichÉ

E
s wunderte sie nicht einmal sehr, als Nathan ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche kramte und es ihr hinhielt. »Nehmen Sie. Es hilft manchmal.«
Sie zog eine Zigarette heraus und ließ sich von Nathan Feuer geben. Sie registrierte sein elegantes silbernes Feuerzeug und die Wärme und Kraft, die von seinen Händen ausgingen. Als seine Finger ihre berührten, lief eine Gänsehaut ihren Arm hinauf.
»Woher haben Sie plötzlich Zigaretten?«, fragte sie.
»Gestern in KingÕs Lynn gekauft«, erwiderte er gleichmütig.
Sie hatte völlig vergessen, ihn zu fragen, ob er am Vortag in jenem Café gewesen war. Sie hatten am gestrigen Abend zusammen gekocht und gegessen und dann mit Kim am Küchentisch gesessen und Spiele gespielt, und es hatte eine so fröhliche, ausgelassene Stimmung geherrscht, dass sich Virginia nicht mehr erinnert hatte, wie perplex und konsterniert sie gewesen war. Nun fiel es ihr wieder ein.
»Ich habe Sie gestern vor einem Café in der Stadt gesehen«, sagte sie, »und mich sehr gewundert. Sie hatten gar nicht erwähnt, dass SieÉ«
E
r lächelte. »Ich wusste nicht, dass ich so etwas ankündigen muss.«
Sie nahm einen hastigen Zug von ihrer Zigarette. »Das müssen Sie natürlich nicht. Ich war auch einfach nurÉ überrascht.«
»Ich langweilte mich«, erklärte Nathan, »und beschloss, mich für zwei Stunden in ein Café zu setzen und Zeitung zu lesen. Ich tue das hin und wieder sehr gern, wissen Sie.«
»Ein weiter Weg ohne Auto.«
»Ich bin gut zu Fuß.«
»Auch im strömenden Regen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.02.2007