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»Unterjüngung« ist das Problem der Zukunft

»Älter, weniger, bunter«: Tagung an der Fachhochschule zum demographischen Wandel

Bielefeld (sas). Nicht die Überalterung der Gesellschaft sei das Problem, sondern die »Unterjüngung«, sagt Franz-Xaver Kaufmann. Der emeritierte Soziologie-Professor der Uni war einer der Referenten einer Fachtagung an der Fachhochschule Bielefeld mit dem Titel »Älter, weniger, bunter - Unsere Gesellschaft im Wandel«.

»Bei der gegenwärtigen Fertilität haben 1000 Frauen im Durchschnitt 667 Töchter, 444 Enkelinnen und 296 Urenkelinnen«, so Kaufmann. Allerdings: »Es kommt nicht allein auf die Köpfe und deren Alter, sondern auf die Fähigkeiten in einer Bevölkerung an.« Ziel müsse also der »möglichste Erhalt des Humanvermögens und die Förderung sozialisatorisch erfolgreicher Familien« sein. Angesichts der Veränderung der nachgefragten Qualifikationen, so Kaufmanns Folgerung, dürfte die »Humankapitallücke« noch breiter ausfallen als die demographische.
Gewinner des Wandels sind nach Kaufmanns Ansicht diejenigen, die seit 1970 nicht in das Aufziehen von Kindern investiert haben, sondern sich ökonomisch rational verhalten und konsumiert statt »investiert« haben. »Die Geburtenlücke ist eine Investitionslücke.« Die Gewinne, so der Soziologe, liegen hinter uns. »Die Kosten - vor allem in der Form geringeren Wirtschaftswachstums und der impliziten Staatsschuld der Rentenversicherung und Beamtenversorgung - liegen vor uns.«
Nur außergewöhnliche Bildungsanstrengungen und die besondere Förderung bildungsferner Schichten könnten nach seiner Einschätzung den Nachwuchsmangel in etwa ausgleichen. Bleibt aber angesichts des rasanten Anstiegs der Alterslast das Problem der Rentenfinanzierung; der Soziologe erwartet Verteilungskämpfe.
Nur als Problem wollten die Fachleute den Wandel aber nicht sehen: »Es gibt widersprüchliche Einschätzungen, ob er eher Risiko oder Chance ist«, fasst Tagungsleiterin Prof. Dr. Angela Brand, Fachbereich Sozialwesen der FH, zusammen. Als Herausforderung sieht ihn Bielefelds Demographiebeauftragte Susanne Tatje. Sie entwickelt ein Konzept, wie sich die Stadt darauf einstellen kann. Ihr Motto: Die Zukunft angehen und sich den Fragen nach wohnortnaher Pflege, nach Wohnmodellen oder Quartiersentwicklung zu stellen.
»Ohnehin ist der demographische Wandel nicht nur negativ. Wir werden älter, aber wir werden gesünder älter. Heute hat man nach der Rente noch 20 oder 30 Jahre. Da lohnt es sich zu investieren«, sagt Dr. Helmut Brand, Direktor des Landesinstituts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Und auch er bekräftigt, dass das Missverhältnis zwischen Jung und Alt das Problem sei. »Nur die Migration rettet uns davor, dass wir schon weniger werden.«
Damit sie sich nicht zum größeren Problem auswächst, setzen die Fachleute auf mehr Integration. »Das muss nicht gleich Millionen kosten: Wir müssen Multiplikatoren schulen.« Die Befähigung von Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfe, ergänzt Angela Brand, wird künftig vermehrt eine der Aufgaben der Sozialarbeit sein.

Artikel vom 12.01.2007