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Mädchen, mitleidlos
in die Welt geworfen

»Heul doch!« von Melanie Arns (26) im TAMZWEIJUNG

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Gar zu gerne hätten die Existenzialisten, Heidegger vorneweg, gewusst, wieso der Mensch in diese Welt geworfen wurde. Aber außer dass wir sterben müssen, außer dem »Sein zum Tode«, fiel ihnen nicht viel dazu ein. Ein Versuch, tiefer zu gründeln, wurde am Samstag im TAMZWEIJUNG heftig beklatscht.

Gerade den jungen Mädchen ist die Welt voller Rätsel. Liebes Tagebuch, fragen sie dann, warum werd ich von Aerobic müde, aber nicht schlank, warum sind alle Türken Machos, warum lieb ich meinen Deutschlehrer, er mich aber nicht, und wo wir schon dabei sind: Warum vergewaltigt mich mein eigener Vater? Fragen über Fragen. Und die Existenzialisten in dieser globalen Zirkuskuppel: ratlos.
Melanie Arns (26), sah am Samstag zu (ganz begeistert übrigens), wie zum gleichen Thema, an dem sich Heidegger, Sartre & Co. die Zähne ausbissen, ihr Roman »Heul doch!« auf der Bühne gerappt wurde. Und 1, und ich hab Aids, und 2, und is ja gar nicht wahr, und 3 und hopp, skandieren drei Funkenmariechen (Melanie Arns stammt vom Rhein). Und 1, und Papa liest den Sport, und 2, und Oma das Lokale, und 3, und das Feuilleton fällt unter den Tisch (»ich hinterher«). Und jetzt, wo die Kultur kein Aas mehr interessiert, wundert man sich, warum die Welt so ist, wie sie ist. Kein Wunder, dass der liebe Gott nicht anruft und sich dafür entschuldigt, junge Mädchen auf ausgerechnet diesen Planeten geworfen zu haben.
Neusprech, okay. Jungsprech, geht auch völlig in Ordnung. Der Folder (neu für Programmheft) bittet das TAMZWEIJUNG-Publikum verschämt um Verständnis für »unerhörte, starke Töne, an die man sich gewöhnen muss.« Nicht doch. Längst passiert.
Auch die Fragen: alle schon gehört. Halt, eine bleibt: Wie wird weibliche Befindlichkeit theaterkompatibel? Vielleicht durch Vorlesen mit Betonung? Aber wir wollen nicht ungerecht sein: Ines Buchmann, Claudia Mau und Ulrike Müller geben alles, um die Suche in der Mädchenseele zu illustrieren. Über ihre textintensiven Anstrengungen stülpt Regisseur Michael Heicks lärmende Musik, die Tarnkappe der Moderne, und die Rockpopper von »Radiohead« bitten Heidegger und seine Existenzialistenschar darum, bevor sie abnippeln, wenigstens für kurze Zeit, zumindest für einen Menschen something special gewesen zu sein. Aber leider, finden »Radiohead«, wurde man als creep (Widerling) und weirdo (Spinner) in diese Welt geworfen.
Hat da eben jemand »narzisstische Kränkung« gemurmelt? Ach, Freud, halt bloß die Klappe.
Ob »Heul doch!« die Angst verbalisiert, nach dem Verebben aller Geräusche könnte offenbar werden, dass der Silben-Rap eine Stille übertönte, die bloß der akustische Ausdruck von Leere war? Bei den weiteren Aufführungen am 10., 18., 20. und 26. Januar sowie am 1., 4., 9. und 23./24. Februar bitte genau hinhören.

Artikel vom 08.01.2007