09.02.2007
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Wann immer ihr diese Erkenntnis kam, erfüllten sie Fassungslosigkeit und Schmerz.
Michael gegenüber verhielt sie sich gereizt und launisch. Er reagierte auf seine Art: geduldig und traurig. Er würde sich nie gegen irgendetwas wehren, das von ihr kam. Wenn es sein musste, ließ er sich auch schlecht behandeln von ihr. Er lebte in der Angst, sie zu verlieren, und er wollte nichts tun, was sie hätte dazu bringen können, ihn zu verlassen.
I
»Michael, ich möchte eigentlich allein sein.«
»Aber ich muss etwas mit dir besprechen.«
Er war hartnäckiger gewesen als sonst, und schließlich hatte sie eingewilligt, dass er mitkam. Es war ein herrlicher Abend, das frisch gemähte Gras duftete, und das rote Licht der Abendsonne färbte den Himmel, die Wellen des Flusses und die Mauern des Colleges in einem kupferfarbenen Schein. Überall waren Menschen unterwegs, Studenten und Dozenten. Lachen, Rufen und Plaudern erfüllten die klare Luft.
Virginia war in sich gekehrt und grüblerisch wie in all den letzten Monaten. Sie vergaß fast, dass Michael neben ihr stand, so sehr war sie mit sich selbst beschäftigt, und sie zuckte zusammen, als er sie plötzlich ansprach. Sie standen gerade auf einer Brücke, lehnten sich an das Geländer und sahen dem unter ihnen dahintanzenden Wasser zu.
»Möchtest du meine Frau werden?«, fragte Michael ebenso unvermittelt wie feierlich.
Sie starrte ihn fast entsetzt an. »Was?«
Er lächelte verlegen. »Ich war vielleicht ein bisschen zu direkt, aberÉ na ja, wir wollten das doch schon immer, undÉ«
»Aber da waren wir Kinder!«
»Meine Gefühle für dich haben sich nie geändert.«
»MichaelÉ«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich bin vielleicht nicht der Mann, den du dir immer erträumt hast, aberÉ ich meine, dieser Kanadier, mit dem du verlobt warst, war vielleicht viel aufregenderÉ«
An den hatte sie schon gar nicht mehr gedacht. Und Michael meinte, sie grübele noch immer über ihn nach.
»Aber er hatte doch eindeutig seine Schattenseiten«, fuhr Michael fort. »Er hat dich misshandelt und ständig getrunkenÉ Und so etwas würde dir mit mir nicht passieren.«
Sie sah ihn an. Nein, dachte sie, das Schlimme ist nur, dass mir mit dir überhaupt nichts passieren würde. Dass ich das Gefühl hätte, mein Leben zu verschlafen.
»Weißt du«, sagte Michael, »ich fange ja im nächsten Jahr an zu arbeiten, und dann möchte ich schnell ein Heim für uns schaffen. Auf die Dauer ist das ja nichts mit dieser kleinen Wohnung. Ich dachte an ein Häuschen mit einem Garten. Was meinst du? Dann hätten auchÉ« Er stockte.
»Was?«, fragte Virginia.
»Dann hätten unsere Kinder Platz zum Spielen«, sagte Michael. Er räusperte sich. »Ich will dich ja nicht drängen, Virginia, aber ich hätte so gern Kinder. Ich liebe Kinder. Ich würde es genießen, eine richtige Familie zu haben. Was meinst du?«
Das ging ihr alles viel zu schnell. Heiraten, in ein Haus umziehen, Kinder bekommen. Das alles mit einem Mann, der ihr vertraut war, den sie mochte, der aber nicht im Entferntesten in ihr auslösen konnte, was Andrew in ihr auslöste. Sie musste an die Nächte mit ihm denken, an all das, was zwischen ihnen gewesen war, und schon füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wandte das Gesicht ab, damit Michael es nicht bemerkte.
Er war jedoch feinfühlig genug, um zu spüren, dass sie alles andere als glücklich war.
Ein paar Tage nach diesem Abend traf Virginia mitten in Cambridge Andrew auf der Straße. Er war in Begleitung einer attraktiven, blonden Frau, die einen gewaltigen Neunmonatsbauch vor sich her schob. Susan.
Andrew erstarrte sekundenlang, als er Virginias ansichtig wurde, dann sah er zur Seite und ging rasch weiter. Virginia war so geschockt, dass sie mit weichen Knien die Straße überquerte, im nächstbesten Café untertauchte, auf einen Stuhl sank und die Bedienung entgeistert anblickte, als diese sie nach ihren Wünschen fragte. Susan, das Phantom, hatte plötzlich ein Gesicht bekommen. Ganz zu schweigen von dem riesigen Leib, der die Frucht von Andrews Untreue in sich trug. Bei dem Gedanken an den erschrockenen Ausdruck in Andrews Augen und an die hastige Bewegung, mit der er sich von ihr abgewandt hatte, begannen ihre Wangen vor Scham zu brennen. Mit diesem Mann hatte sie sich eine Zukunft erträumt. Von diesem Mann hatte sie sich wochenlang belügen und monatelang hinhalten lassen. Und nun musste sie es ertragen, dass er auf der Straße vorgab, sie nicht zu kennen.
Am Abend erklärte sie Michael, dass sie bereit sei, mit ihm in ein Haus zu ziehen. Sie stellte nur eine Bedienung: Es dürfe nicht in Cambridge sein.
Es war schlimm genug, dass sie dort die Universität besuchte. Aber wohnen wollte sie woanders. Sie hatte keine Lust, bei ihrem nächsten Gang zum Bäcker oder zum Supermarkt Andrew, Susan und einem schreienden Baby im Kinderwagen zu begegnen.
S
Zum ersten Mal seit Jahren nahm ihr Leben eine friedliche Gangart an, wurde jeder Tag zum Abbild seines Vorgängers, breiteten sich Ruhe und Vorhersehbarkeit um sie herum aus.
Problematisch blieb Michael.
Artikel vom 09.02.2007