09.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Sie verbrachte lange, trübe Stunden auf dem Campus, sonderte sich von ihren Freunden ab, zog sich ans Flussufer zurück, starrte in die Fluten und versuchte, Andrew Stewart und die Zeit mit ihm aus ihren Gedanken zu verdrängen. Er war ihre große Liebe gewesen, zumindest hatte sie das geglaubt, und in der Intensität der Gefühle kam das möglicherweise auf dasselbe hinaus. Sie wusste nicht, was schwerer wog: die Tatsache, dass sie ihn verloren hatte, dass sie jede Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft aufgeben musste, oder der Umstand, von ihm betrogen worden zu sein. Sie dachte an das herrliche, romantische lange Wochenende in Northumberland. Zehn Tage später hatte er mit Susan ein Kind gezeugt.
Wann immer ihr diese Erkenntnis kam, erfüllten sie Fassungslosigkeit und Schmerz.
Michael gegenüber verhielt sie sich gereizt und launisch. Er reagierte auf seine Art: geduldig und traurig. Er würde sich nie gegen irgendetwas wehren, das von ihr kam. Wenn es sein musste, ließ er sich auch schlecht behandeln von ihr. Er lebte in der Angst, sie zu verlieren, und er wollte nichts tun, was sie hätte dazu bringen können, ihn zu verlassen.

I
m Spätsommer begann er, erstmals wieder seit ihrer beider Kindheit, von Heirat zu sprechen. Eines Abends hatte er Virginia bei einem Spaziergang durch die Gärten des KingÕs College begleitet, obwohl sie abgewehrt hatte.
»Michael, ich möchte eigentlich allein sein.«
»Aber ich muss etwas mit dir besprechen.«
Er war hartnäckiger gewesen als sonst, und schließlich hatte sie eingewilligt, dass er mitkam. Es war ein herrlicher Abend, das frisch gemähte Gras duftete, und das rote Licht der Abendsonne färbte den Himmel, die Wellen des Flusses und die Mauern des Colleges in einem kupferfarbenen Schein. Überall waren Menschen unterwegs, Studenten und Dozenten. Lachen, Rufen und Plaudern erfüllten die klare Luft.
Virginia war in sich gekehrt und grüblerisch wie in all den letzten Monaten. Sie vergaß fast, dass Michael neben ihr stand, so sehr war sie mit sich selbst beschäftigt, und sie zuckte zusammen, als er sie plötzlich ansprach. Sie standen gerade auf einer Brücke, lehnten sich an das Geländer und sahen dem unter ihnen dahintanzenden Wasser zu.
»Möchtest du meine Frau werden?«, fragte Michael ebenso unvermittelt wie feierlich.
Sie starrte ihn fast entsetzt an. »Was?«
Er lächelte verlegen. »Ich war vielleicht ein bisschen zu direkt, aberÉ na ja, wir wollten das doch schon immer, undÉ«
»Aber da waren wir Kinder!«
»Meine Gefühle für dich haben sich nie geändert.«
»MichaelÉ«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich bin vielleicht nicht der Mann, den du dir immer erträumt hast, aberÉ ich meine, dieser Kanadier, mit dem du verlobt warst, war vielleicht viel aufregenderÉ«
An den hatte sie schon gar nicht mehr gedacht. Und Michael meinte, sie grübele noch immer über ihn nach.
»Aber er hatte doch eindeutig seine Schattenseiten«, fuhr Michael fort. »Er hat dich misshandelt und ständig getrunkenÉ Und so etwas würde dir mit mir nicht passieren.«
Sie sah ihn an. Nein, dachte sie, das Schlimme ist nur, dass mir mit dir überhaupt nichts passieren würde. Dass ich das Gefühl hätte, mein Leben zu verschlafen.
»Weißt du«, sagte Michael, »ich fange ja im nächsten Jahr an zu arbeiten, und dann möchte ich schnell ein Heim für uns schaffen. Auf die Dauer ist das ja nichts mit dieser kleinen Wohnung. Ich dachte an ein Häuschen mit einem Garten. Was meinst du? Dann hätten auchÉ« Er stockte.
»Was?«, fragte Virginia.
»Dann hätten unsere Kinder Platz zum Spielen«, sagte Michael. Er räusperte sich. »Ich will dich ja nicht drängen, Virginia, aber ich hätte so gern Kinder. Ich liebe Kinder. Ich würde es genießen, eine richtige Familie zu haben. Was meinst du?«
Das ging ihr alles viel zu schnell. Heiraten, in ein Haus umziehen, Kinder bekommen. Das alles mit einem Mann, der ihr vertraut war, den sie mochte, der aber nicht im Entferntesten in ihr auslösen konnte, was Andrew in ihr auslöste. Sie musste an die Nächte mit ihm denken, an all das, was zwischen ihnen gewesen war, und schon füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wandte das Gesicht ab, damit Michael es nicht bemerkte.
Er war jedoch feinfühlig genug, um zu spüren, dass sie alles andere als glücklich war.
Unbeholfen strich er ihr über den Arm. »Es tut mir leid. Ich habe dich vielleicht zu sehr überfallen mit alldem. Es ist nurÉ ich liebe dich so sehr!«
Ein paar Tage nach diesem Abend traf Virginia mitten in Cambridge Andrew auf der Straße. Er war in Begleitung einer attraktiven, blonden Frau, die einen gewaltigen Neunmonatsbauch vor sich her schob. Susan.
Andrew erstarrte sekundenlang, als er Virginias ansichtig wurde, dann sah er zur Seite und ging rasch weiter. Virginia war so geschockt, dass sie mit weichen Knien die Straße überquerte, im nächstbesten Café untertauchte, auf einen Stuhl sank und die Bedienung entgeistert anblickte, als diese sie nach ihren Wünschen fragte. Susan, das Phantom, hatte plötzlich ein Gesicht bekommen. Ganz zu schweigen von dem riesigen Leib, der die Frucht von Andrews Untreue in sich trug. Bei dem Gedanken an den erschrockenen Ausdruck in Andrews Augen und an die hastige Bewegung, mit der er sich von ihr abgewandt hatte, begannen ihre Wangen vor Scham zu brennen. Mit diesem Mann hatte sie sich eine Zukunft erträumt. Von diesem Mann hatte sie sich wochenlang belügen und monatelang hinhalten lassen. Und nun musste sie es ertragen, dass er auf der Straße vorgab, sie nicht zu kennen.
Am Abend erklärte sie Michael, dass sie bereit sei, mit ihm in ein Haus zu ziehen. Sie stellte nur eine Bedienung: Es dürfe nicht in Cambridge sein.
Es war schlimm genug, dass sie dort die Universität besuchte. Aber wohnen wollte sie woanders. Sie hatte keine Lust, bei ihrem nächsten Gang zum Bäcker oder zum Supermarkt Andrew, Susan und einem schreienden Baby im Kinderwagen zu begegnen.
Sie zogen nach St. Ives. Nah genug, um in Cambridge arbeiten zu können, und weit genug, um Andrew und seiner jungen Familie nicht bei jeder Gelegenheit über den Weg zu laufen. Michael hatte vorsichtig dafür plädiert, doch etwas näher an der Universitätsstadt zu bleiben, zumal er Anfang des neuen Jahres eine Assistentenstelle bekäme und sehr eingespannt wäre. Ohne den Fahrtweg hätte er es leichter gehabt. Aber ohne weitere Gründe zu nennen, beharrte Virginia auf ihrem Wunsch, und da Michael viel zu glücklich war, sie überhaupt so weit gebracht zu haben, riskierte er keinerlei Widerworte mehr und fügte sich in ihre Vorstellungen, obwohl er sie nicht begriff.

S
ie hatten nicht viel Geld, und das Häuschen in St. Ives war sehr klein, aber es war doch ihr erstes richtiges gemeinsames Zuhause. In der Enge des Ein-Zimmer-Apartments hatten sich beide nicht wirklich wohl gefühlt. Jetzt gab es ein Wohnzimmer mit einem Kamin, eine Küche, in die auch ein Esstisch hineinpasste, und zwei weitere kleine Zimmer, die nach hinten zum Garten hinausgingen. Eines davon richteten sie als Schlafzimmer ein, das andere als Arbeitszimmer. Sie kauften billige Möbel, deren Schlichtheit sie mit bunten Kissen aufpeppten, und einfache Stoffe, aus denen Virginia mehr schlecht als recht Vorhänge für die Fenster nähte. Sie bepflanzten den Garten und begannen nach Rücksprache mit dem Vermieter, den vorderen Begrenzungszaun abzubauen, um das kleine Grundstück ein wenig großzügiger wirken zu lassen. Da das Haus am Hang gebaut war, bestand der vordere Teil des Gartens aus einem Steilhang, an dessen rechter Seite entlang man über eine Treppe nach oben zur Haustür gelangen konnte. Auf der anderen Seite befand sich eine Auffahrt, die zur Garage führte. Da Virginia und Michael zunächst kein Auto besaßen, funktionierten sie die Garage zur Gartenhütte um, und bald war sie mit allerlei Geräten, Terrakottatöpfen und Kästen voller Saatgut gefüllt. Virginia widmete sich dem Garten mit einer Hingabe, die sie selbst erstaunte; sie hatte nie zuvor Lust verspürt, in der Erde zu graben oder Blumen und Büsche zu pflanzen. Jetzt aber hatte sie den Eindruck, sich unbewusst eine Therapie gesucht zu haben. Das Werkeln in der frischen Luft, der Geruch nach Erde und Gras, die Freude, dem Wachsen und Blühen ringsum zuzuschauen, halfen ihr, mit dem Schmerz um ihre verlorene Liebe fertigzuwerden. Es ging ihr schrittweise immer besser. Auch der räumliche Abstand zu Cambridge tat ihr gut. Zwar fuhr sie jeden Morgen zur Uni und nahm schließlich auch noch einen Aushilfsjob in der Bibliothek an, aber sie verließ kaum je das Collegegelände, und so bestand wenig Gefahr, Andrew und seiner Familie plötzlich über den Weg zu laufen. Und draußen in St. Ives musste sie sich ohnehin nicht fürchten. Sie unternahm lange Spaziergänge, fing an, regelmäßig zu joggen, befreundete sich mit den Nachbarn ringsum. Etwas spießige, aber nette Leute.
Zum ersten Mal seit Jahren nahm ihr Leben eine friedliche Gangart an, wurde jeder Tag zum Abbild seines Vorgängers, breiteten sich Ruhe und Vorhersehbarkeit um sie herum aus.
Problematisch blieb Michael. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.02.2007