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Er gehörte nicht mehr zu der Generation von Männern, der man beigebracht hatte, auf keinen Fall je zu weinen, dennoch schien es ihm im Moment ganz ausgeschlossen, Tränen zuzulassen. Vielleicht, weil Claire so übel dran war und er daher meinte, stark bleiben zu müssen. Vielleicht auch, weil er ahnte, dass ihn sein Schmerz und seine Angst hinwegtragen würden, ließe er sie erst ausbrechen, und dass er dann irgendwann so dasitzen würde wie Claire.
Und Rachel findet zwei lallende Eltern vor, wenn sie heimkommt, und das geht doch nicht!
»Wo ist Ihre andere Tochter?«, wollte die Psychologin wissen. Sie hatte sich offenbar informiert. »Sie haben doch noch ein jüngeres Kind, nicht?«
»Ja. Sue. Sie ist bei der Schwester meiner Frau in Downham Market. Wir hielten es für besser, dass sie nicht so genau miterlebtÉ«
»Das ist absolut vernünftig!«
Die Psychologin, die Joanne hieß, hatte einen Imbiss zubereitet und darauf bestanden, dass Robert etwas aß. Draußen senkte sich die Dunkelheit über den Garten. Der Regen rauschte. Der zweite Abend ohne Rachel. Der zweite Abend, an dem sie nicht wussten, wo sie sich aufhielt. Robert hasste sich fast dafür, dass er im Trockenen saß und eine Scheibe Brot und eine Tomate aß. Er trank drei Gläser Wein, und das war das Einzige, was ihm an diesem furchtbaren Tag ein wenig half.

E
s hatte ihm gut getan, mit einem ruhigen, gefassten Menschen zu sprechen. Joanne schien etwas von ihrem Job zu verstehen, denn es gelang ihr, ihm ein wenig Frieden zu geben. Sie hatten über die Möglichkeit einer Entführung gesprochen.
»Hält die Polizei das für möglich?«, hatte sie gefragt, und Robert hatte tief und traurig geseufzt.
»Zum jetzigen Zeitpunkt«, sagte er, »schließen die wohl gar nichts aus. Aber Tatsache ist, dass es bislang weder einen Brief noch einen Anruf von möglichen Erpressern gibt. Und ehrlich gesagtÉ«
»Ja?«
»Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass man ausgerechnet unsere Familie aussucht, wenn man an Geld kommen will. Wir sind alles andere als reich. Das Haus ist noch lange nicht abbezahlt. Ich verkaufe EDV-Programme an Firmen, richte sie ein und halte Schulungen für die Mitarbeiter ab. Ich verdiene je nach Umfang und nach Auftragslage, und die Zeiten sind nicht allzu gut. Claire kümmert sich hauptsächlich um die Kinder und verdient sich ab und zu etwas mit Theaterkritiken für die Lynn News dazu. Es geht uns nicht schlecht, aberÉ« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Irgendwie wusste er, dass niemand kommen würde, um Geld zu verlangen.
»Wissen Sie«, sagte er verzweifelt, »abgesehen davon, dass ich aus tiefster Seele wünschte, Rachel säße jetzt hier bei uns, und dass mir die zweitliebste Variante die wäre, dass sie sich verlaufen hat, von anständigen Menschen aufgegriffen und uns zurückgegeben wird, so würde ich als dritte Möglichkeit darauf hoffen, dass jemand sie gekidnappt hat, um daran reich zu werden. Vielleicht jemand, der sie verwechselt hat? Denn dann gäbe es eine Chance, sie unversehrt zurückzubekommen. Die schrecklichste Alternative ist doch dieÉ« Es fiel ihm so schwer, dies auszusprechen. Er sah das Mitgefühl in Joannes Augen und musste erneut gegen die Tränen kämpfen.
»Die schrecklichste Alternative ist doch die, dass sie irgend so einem perversen Kerl in die Hände geraten ist. Wissen Sie, so wie es gerade diesem anderen Mädchen aus KingÕs Lynn passiert ist. Wenn ich mir vorstelle, dass sie jetzt vielleicht gerade von ihmÉ« Er stöhnte auf, bedeckte die Augen mit der Hand.
Joanna fasste kurz nach seinem Arm. »Stellen Sie es sich nicht vor. Quälen Sie sich nicht mit fürchterlichen Fantasien. Ich weiß, das ist leicht gesagt. Aber es hilft nichts, wenn Sie sich verrückt machen. Sie brauchen Ihre Nerven und Ihre Kraft.«

S
ie hatten noch ein wenig über Rachel gesprochen, er hatte Fotos gezeigt und von ihr erzählt. Joanne hatte sich gegen elf Uhr verabschiedet. Robert war in sein Arbeitszimmer gegangen und hatte wahllos im Internet gesurft. Er hatte gehört, wie Claire um drei Uhr morgens unten auf und ab zu gehen begann; offenbar ließ die Wirkung der Spritzen nach, und sie konnte sich wieder bewegen. Irgendwann wurde der Fernseher eingeschaltet.
Okay, Fernsehen ist gut. Computer ist gut. Die Psychologin war gut. Wir müssen überleben. Wir müssen diese Nacht überstehen. O Gott, lass es nicht zu viele solcher Nächte werden!
Und nun standen die drei Polizeibeamten im Wohnzimmer, und es war ihnen anzusehen, dass sie ihren Beruf in diesem Moment hassten. Robert schaute zu Claire hinüber. Sie trug ihren weißen Bademantel und hatte sich die Haare gekämmt, aber sie sah noch immer verwüstet aus mit ihren geschundenen Handgelenken und den tiefen Kratzern im Gesicht.
»Was ist mit Rachel?«, fragte sie. Ihre Stimme und ihre Gesichtsmuskulatur gehorchten ihr wieder.
Einer der Beamten räusperte sich. »Wir wissen nicht, ob es sich um Ihre Tochter handelt, das muss ich gleich vorwegschicken, aberÉ«
Warum seid ihr dann hier, dachte Robert, wenn ihr es nicht eigentlich doch wisst?
Der Polizei lag eine genaue Beschreibung Rachels vor. Größe, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe. Die Kleidung, die sie am Sonntag getragen hatte. Wenn sie ein Kind gefunden hatten, in welchem Zustand auch immer, dürfte es nicht allzu viele Zweifel geben.
»Ein Jogger hat heute früh die Leiche eines Kindes gefunden.« Der Beamte schaffte es, mit Claire und Robert zu reden, ohne sie beide anzusehen. »Es könnteÉ Es könnte sein, dass es Rachel ist.«

C
laire hatte von Situationen gelesen, die so waren wie die, die ihr gerade widerfuhr. In Büchern, in Zeitungen. Sie hatte Filme darüber gesehen. Erst letzte Woche hatte sie eine Talkshow angeschaut, in der die Mutter der kürzlich getöteten Sarah Alby über die Tragödie berichtete, in die sich ihr Leben unvermittelt verwandelt hatte. Wann immer sie damit konfrontiert worden war - mit dem Verlust eines Kindes durch ein Gewaltverbrechen -, hatte sie den Schmerz der Eltern zutiefst nachempfunden und sich zugleich gefragt, wie ein Mensch dies ertragen und danach weiterleben konnte. Ihre Erkenntnis war immer die gewesen, dass es wohl nicht ging: Man konnte danach vielleicht noch existieren, atmen, schlafen, wachen, essen und trinken, aber man konnte nicht mehr leben. Zu viel würde absterben. Das Wichtigste würde absterben.

U
nd nun stand sie an einem kühlen, wolkigen Augusttag im Wohnzimmer des behaglichen kleinen Hauses, das sie sich mit Robert geschaffen hatte, stand inmitten ihrer beider beschaulichen, idyllischen Welt, die schon in ihrer Auflösung begriffen war, und erlebte selbst den Moment, von dem sie geglaubt hatte, er sei nicht zu ertragen. Und ertrug ihn. Betäubt und in einer eigenartigen Distanz zu sich selbst. Sie war Teil des Geschehens und zugleich Beobachterin. Später dachte sie, dass es diese Abspaltung gewesen war, die sie in jenem Moment nicht hatte wahnsinnig werden lassen.
Sie hörte Robert fragen: »WoÉ wurde dieses KindÉ?«
»Ganz nah bei Schloß Sandringham. Fast unmittelbar neben den Parkanlagen«, sagte einer der beiden anderen Beamten, die bis dahin noch nicht gesprochen hatten.
»SandringhamÉ ist aber ziemlich weit entfernt von uns«, sagte Robert.
»Es muss sich nicht um Ihre Tochter handeln«, betonte der erste Beamte erneut. »Es wäre hilfreich, wenn Sie beide, oder einer von Ihnen, mit uns kommen und das Kind ansehen würden.«
Claire hatte das Gefühl, immer weiter zurückzutreten, aus immer größerer Distanz die kleine Gruppe zu beobachten.
»Wie wurde das Kind getötet?«, hörte sie sich fragen.
»Das Abschlussgutachten der Gerichtsmedizin liegt noch nicht vor. Für uns erkennbare Spuren weisen jedoch darauf hin, dass es erdrosselt wurde.«
»Und hat man esÉ wurde esÉ?«
»Sexuell missbraucht? Wie gesagt, das kann uns erst die Gerichtsmedizin beantworten. Meinen Sie, dass SieÉ fühlen Sie sich in der Lage, uns jetzt zu begleiten?«
Robert hätte gern nach Joanne gefragt. Irgendwie hatte sie ihm gut getan, und er dachte plötzlich, dass er dies alles besser mit ihr an seiner Seite durchstehen könnte, aber er wagte nicht, dies zu sagen. Er nickte nur. »Ich komme mit. Claire, du bleibst hier.« Er blickte die Beamten an. »Könnte einer von Ihnen bei meiner Frau bleiben, bis ich wieder da bin?«
»Selbstverständlich.«
Er sah zu Claire hin.
»Komm bald wieder«, bat sie. Er würde ein anderer Mann sein, wenn er zurückkam, das war ihr klar. Und sie eine andere Frau.
Sie wusste, es war Rachel, die man ihm zeigen würde.
2
Michael
Die Wochen, die der Reise nach Rom folgten, waren für Virginia quälend und trostlos. Tag für Tag ging sie zur Uni, aber die Vorlesungen glitten an ihren Ohren vorüber, ohne dass sie wahrgenommen hätte, worum es eigentlich ging. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.02.2007