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Wie hatte ihn Frederic genannt? Eine Zecke. Ein böses Wort. Zecken wurde man nicht einfach los. Man konnte sich schütteln und sich kratzen, sie fielen nicht ab, waren wie verwachsen mit ihrer Nahrungsquelle. Erst wenn sie satt waren, so vollgesogen mit Blut, dass sie fast platzten, ließen sie freiwillig los. Dick und fett plumpsten sie zur Erde. Übertrugen vorher aber unter Umständen noch gefährliche Krankheiten, die ihre Opfer sogar das Leben kosten konnten.
Jetzt ist Schluß, befahl sie sich und reihte sich in den wegen des fürchterlichen Wetters eher vorsichtig dahinfließenden Straßenverkehr ein, es ist nicht fair, so über einen anderen Menschen zu denken. Er ist keine Zecke. Er saugt mich schließlich nicht aus.
Was will er dann?
Sie überlegte, ob es um Geld ging. Er hatte sich einen Betrag von ihr geben lassen, er würde es vielleicht wieder tun, aber es handelte sich nicht um wirklich nennenswerte Summen. Nichts, wofür es sich lohnte, großen Aufwand zu treiben. Und er fragte nie nach mehr. Ein Mann, der auf Geld scharf war, hätte schon Frederics Abwesenheit genutzt, um wegen weiterer Beträge zu bohren. Er hätte manches erfinden können - Vorauszahlungen für das Krankenhaus etwa. Aber nichts in dieser Art war geschehen.
Also wieder die Frage: Was will er dann?
Sie dachte an den Morgen - gestern war es erst gewesen -, als er mit ihrem Foto in der Hand zu ihr getreten war. Wohin ist diese wilde, lebendige Frau verschwunden? Und warum?
Er hatte ihr zugehört. Am Vortag und auch heute wieder den ganzen Vormittag über. Konzentriert, keine Sekunde abschweifend, ohne ein Anzeichen von Ermüdung oder Langeweile. Warum tat er das?
Er will mich. Das ist die Antwort. Er will mich.
Der Gedanke erschreckte sie so, dass sie fast mitten im fließenden Verkehr abrupt auf die Bremse getreten wäre und damit einen Auffahrunfall verursacht hätte. Sie konnte sich gerade noch zusammenreißen, geriet aber dabei ins Schleudern und rutschte auf die Nebenspur hinüber. Sie hörte wütendes Hupen, lenkte rasch auf ihre eigene Spur zurück. Der Fahrer des Wagens, den sie fast geschrammt hätte, zog vorbei und zeigte ihr höchst aggressiv den Mittelfinger. Sie nahm es nur aus den Augenwinkeln wahr. Sie hatte andere Sorgen.

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ls sie in die Gaywood Road einbog, die zu dem kleinen Vorort führte, in dem sich Kim seit Samstag aufhielt, hätte sie plötzlich fast wieder eine Vollbremsung hingelegt. An der Ecke befand sich ein kleiner Coffeeshop, und gerade als sie vorbeikam, ging ein Mann über den gepflasterten Vorplatz mit den zusammengeklappten, im Regen triefenden Sonnenschirmen und den ineinander gestapelten Bistrotischen und Stühlen. Virginia sah ihn nur von hinten, aber sie meinte plötzlich, die hoch gewachsene Gestalt mit den dunklen Haaren und den breiten Schultern in dem zu engen T-Shirt unter Tausenden heraus erkennen zu können: Nathan Moor. Es musste Nathan sein. Was tat er hier? Wie war er von Ferndale ohne Auto in die Stadt gekommen? Und weshalb? Als sie wegging, hatte er nichts davon erwähnt, er hatte den Anschein erweckt, als obÉ
Ja, was? Genau genommen hatte er überhaupt keinen Anschein erweckt. Sie hatte einfach vorausgesetzt, dass er im Haus bleiben, vielleicht einen Spaziergang durch den Park machen und sich dann mit einem Buch auf das Sofa im Wohnzimmer zurückziehen würde. Im Grunde hatte es dafür so wenig einen Anhaltspunkt gegeben wie für irgendetwas anderes. Blieb die Frage nach dem Wie. Natürlich hätte er es zu Fuß schaffen können, aber das hätte einen fast einstündigen Marsch bedeutet, bei dem sintflutartigen Regen eine alles andere als verlockende Vorstellung. Oder ob er auf Jack getroffen war, der ebenfalls in die Stadt wollte und sich angeboten hatte, ihn mitzunehmen? Der Gedanke behagte ihr gar nicht, denn dann wussten die Walkers jetzt, dass ein fremder Mann in Frederics Abwesenheit bei ihr wohnte. 0Spätestens mit Kims Rückkehr würde die Angelegenheit zwar ohnehin publik werden, aber Virginia hatte gehofft, wenigstens die Tatsache verheimlichen zu können, dass Nathan bereits seit Samstag da war.

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ie stand kurz in der Versuchung, in den Parkplatz einzubiegen, der sich gleich hinter dem Coffeeshop befand, ihr Auto abzustellen und nachzusehen, ob es sich bei dem Mann wirklich um Nathan handelte. Aber dann überlegte sie, dass dies ein peinliches Zusammentreffen geben könnte. Sie hatte kein Recht, ihn zu kontrollieren oder Rechenschaft über seinen Tagesablauf zu verlangen. Er konnte in Cafés sitzen, solange er wollte. Sie würde einfach heute Abend beiläufig erwähnen, dass sie glaubte, ihn in der Stadt gesehen zu haben. Entweder er bot ihr eine plausible Erklärung, oder er stritt es ab. Vielleicht war es ihm auch einfach peinlich, fröhlich irgendwo einen Kaffee zu trinken, anstatt am Krankenbett seiner Frau zu wachen. Es zog ihn deutlich nicht allzu sehr zu ihr hin.
Und auch seine Ehe geht mich überhaupt nichts an, dachte Virginia.
Am Ende war er es auch gar nicht gewesen.
Schon jetzt war sie sich da keineswegs mehr sicher.
Dienstag, 29. August1
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ls drei Polizeibeamte am Dienstag früh um Viertel nach sieben an der Haustür klingelten, wusste Claire Cunningham natürlich sofort, dass dies in einem Zusammenhang mit Rachel stand. Die Mienen der drei Männer verhießen nichts Gutes, dennoch klammerte sich Claire ein paar wenige Sekunden lang an die aberwitzige Hoffnung, man werde ihr nun mitteilen, die Kleine sei gefunden worden, sie habe sich verlaufen gehabt, sei aber wohlauf und werde gerade von einem Polizeiarzt untersucht.
Alles in Ordnung, Mrs. Cunningham. So sind Kinder nun einmal. Plötzlich voxn der Abenteuerlust gepackt, laufen sie irgendwohin und achten nicht auf den Weg, und ehe sie sich versehen, ist es dunkel,. und sie haben keine Ahnung mehr, wo es nach Hause geht!
Sie hatte zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen, abgesehen von einem kurzen, erschöpften Einnicken am späten Montagnachmittag, aus dem sie jedoch viel zu schnell und kein bisschen gestärkt erwacht war. Der Regen des gestrigen Tages hatte sie in eine solche Panik gestürzt, dass zweimal der Arzt hatte kommen und ihr eine Spritze geben müssen.

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iehst du den Regen? Siehst du den Regen?«, hatte sie geschrien. Sie war auf die Knie gesunken, hatte mit den Fäusten auf den Boden geschlagen, den körperlichen Schmerz suchend, um für Sekunden Linderung in ihrer inneren Qual zu finden. Robert, ihr Mann, hatte vergeblich versucht, sie daran zu hindern. »Mein Kind ist da draußen! Mein Kind ist da draußen im Regen! Mein Kind ist da draußen im Regen!« Sie hatte diesen Satz ständig wiederholt, hatte ihn schließlich geröchelt, weil ihre Stimme keine Kraft mehr hatte. Als sie anfing, sich mit allen zehn Fingernägeln durchs Gesicht zu fahren, hatte Robert den Arzt, der beim ersten Zusammenbruch am frühen Morgen schon einmal da gewesen war, noch einmal angerufen. Nach den Spritzen wurde Claire ruhiger, aber der Ausdruck vollkommener Verzweiflung in ihren Augen, ihre schwerfälligen Bewegungen dazu und ihre Bemühungen, etwas zu sagen, das sie dann doch nicht formulieren konnte, waren für ihren Mann fast noch schlimmer zu ertragen gewesen als ihr Toben. Am Montagabend war dann eine Psychologin der Polizei erschienen, um ihre Betreuung anzubieten, und das war der Moment gewesen, da auch Roberts Nerven versagten.

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nsere Tochter wird seit gestern Vormittag vermisst!«, hatte er die junge Frau angebrüllt. »Gestern am frühen Nachmittag haben wir die Polizei verständigt. Inzwischen sind zweiunddreißig Stunden vergangen, in denen wir hier völlig allein diese Katastrophe durchzustehen versuchten. Und jetzt, jetzt, da meine Frau nur noch lallt wie ein Kleinkind, weil sie so viele Spritzen bekommen hat, jetzt hält man es endlich mal für angebracht, uns einen Psychologen vorbeizuschicken?«
»Nun mäßigen Sie sich bitte!«, hatte die Psychologin energisch gemahnt, aber dann war ihr Blick auf Claire gefallen, die fürchterlich aussah. Das Gesicht mit blutigen Kratzern übersät, die Hände und Handgelenke voller Blutergüsse, die in allen Farben, vom dunklen Blau bis zum schreienden Lila, schimmerten. Sie versuchte immerzu etwas zu sagen, schaffte es jedoch nicht, die Buchstaben in ihrem Mund zu formen. Ihre Unterlippe hing schlaff herab und unterlag offenbar nicht mehr ihrer Kontrolle.
»Großer Gott! Ihre Frau ist ja entsetzlich zugerichtet!«

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obert strich sich mit der Hand über sein müdes, blasses Gesicht. Er hatte seine Beherrschung wiedergefunden. »Entschuldigen Sie. Es ist ja gut, dass Sie überhaupt da sind. Ja, es geht Claire sehr schlecht. Sie hat ständig Panikanfälle. Am Sonntag ging es noch, aber seit es draußen regnet und so viel kälter geworden istÉ«
»Ich verstehe«, sagte die Psychologin.
»Ich bin noch froh, dass ich sie hindern konnte, sich selbst mit einem Messer zu attackieren. Der Arzt hat sie ruhig gestellt, aber esÉ es istÉ« Seine Stimme hatte gezittert. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.02.2007