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Alte Damen nicht immer ganz »ladylike«

Krimi-Autorin Ingrid Noll begeistert Versmolder Publikum - 270 Zuhörer im Altstadthotel

Versmold (ka). Welcher Wahnsinn treibt drei alte Menschen in den 70-er Jahren dazu, ihre Kleidung abzustreifen und sich in die eiskalte Nordsee zu werfen? Ist es der Drang im Alter das nachzuholen, was sie in ihrer Kindheit und Jugend als Nachkriegskinder verpasst haben, wie die Krimi-Autorin Ingrid Noll mutmaßt?

Die Protagonisten in ihrem aktuellen Roman »Ladylike« müssen aber auch erfahren, dass Alter nicht vor Torheit schützt. Denn einer von ihnen bricht danach bewusstlos zusammen. »Ladylike« sei weniger ein Krimi als eine Menschengeschichte, begrüßt die Autorin die 270 Besucher, die zu ihrer Lesung am Freitagabend ins Altstadthotel gekommen sind. Es sind in der Mehrzahl Frauen. Noll verrät, dass sie diese Szene annähernd selbst erlebt hat. Bei einem Irlandurlaub habe sie nach einem Bad im kalten Meer einen Kreislaufkollaps erlitten. »Nicht ganz ungefährlich«, meint sie mit Verweis auf den Fortgang der Geschichte augenzwinkernd. Denn natürlich passiere auch in dieser Geschichte ein Mord.
Es ist dieser latente Wahnsinn hinter der Fassade solider Kleinbürgerlichkeit, den Ingrid Noll aufdeckt und in einem klaren, nur scheinbar unkomplizierten Stil erzählt. Die »deutsche Patricia Highsmith« räumt mit dem Klischee auf, dass alte Menschen nur liebe Omas sein wollen. Ihre Heldinnen heißen Lore und Anneliese und denken nicht daran, sich ladylike zurückziehen, nachdem die Kinder groß sind. Mit 73 Jahren gründen sie eine Frauen-Wohngemeinschaft und gehen auf Reise durch Deutschland. Zum Schluss übrigens als gemischtes Trio, denn der getreue, aber etwas undurchsichtige Tanzstundenpartner Ewald gesellt sich zu ihnen. Auf ihn haben beide Frauen ein Auge geworfen. Mit viel trockenem Witz und viel schwarzem Humor hat ihre Erfinderin zu Papier gebracht, was die Seniorinnen dabei nicht immer ganz ladylike erleben.
Ilse Ludwig aus Versmold hat schon vor diesem Abend von Ewald gewusst. Ihre Tochter Renate und sie seien Noll-Fans, wie die 92-Jährige erzählt, und hätten »Ladylike« natürlich schon gelesen. Ludwig Welpinghus hat noch kein Noll-Buch gelesen. »Diese Lesung ist ein Weihnachtsgeschenk«, sagt der Borgholzhausener und es habe ihm so gut gefallen, dass er jetzt eins lesen werde.
Als die 71-jährige Autorin mit ihrem Erstlingsroman »Der Hahn ist tot« 1993 die Leser erobert, ist sie selbst bereits 58 Jahre alt. Warum sie erst so spät angefangen habe zu schreiben, kommt eine Frage aus dem Publikum. »Früher hatte ich einfach keine Zeit und kein Zimmer für so einen Luxus wie Schreiben«, gibt Noll Antwort. Sie habe drei Kinder aufgezogen und in der Arztpraxis ihres Mannes mitgearbeitet. Aber das Schreiben sei immer schon ihr geheimer Wunsch gewesen. Die Autorin, die in Shanghai geboren und in Nanking aufgewachsen ist, lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrer 106-jährigen pflegebedürftigen Mutter in Weinheim.
Die 71-Jährige gilt als eine der erfolgreichsten deutschen Kriminalautoren der Gegenwart. Einige ihrer Romane - etwa »Die Apothekerin« - dienten bereits als literarische Vorlage für Filmdrehbücher. Noll verrät, dass auch an ihrem aktuellen Roman Filmschaffende Interesse hätten. Sie selbst werde sich aber nicht in die Verfilmung einbringen. Das habe sie auch vorher nicht getan. Wenn ein Buch fertig sei, sei für sie die Geschichte abgehakt. Sie wünscht sich nur, die Strandszene nicht auf der Leinwand sehen zu müssen: »Wer möchte schon drei alten Leuten mit schrumpeligen Körpern beim Nacktbaden zugucken?«

Artikel vom 08.01.2007