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Er hatte das Thema Heiraten eine Weile nicht mehr angeschnitten, mit Anbruch des neuen Jahres aber umso heftiger wieder damit begonnen. Familie, Kinder - er schien um kaum sonst etwas zu kreisen.
»Ich will jetzt kein Kind«, sagte Virginia dann stets genervt.
Was ihn zu der unvermeidlichen Erwiderung brachte: »Aber man sollte nicht zu lange warten. Plötzlich sind Jahre vergangen, und man merkt, dass man zu spät dran ist!«
»Ich bin Anfang zwanzig, mein Gott! Ich habe Zeit ohne Ende!«
»Du bist fast Mitte zwanzig!«
»Na und? Ich studiere noch.«
»Du könntest in diesem Jahr deinen Abschluss machen. Und dannÉ«
»Und dann nur noch Kinderwagen schieben? Ich bin doch nicht verrückt. Dann hätte ich doch gar nicht erst zur Uni gehen müssen!«
Es waren fruchtlose Diskussionen, die manchmal im Streit, manchmal in gekränktem Schweigen endeten.
»Warum heiraten wir nicht wenigstens?«, fragte Michael.
»Wozu? Was würde sich ändern?«
»Für mich würde sich etwas ändern. Es istÉ eine andere Art, sich zu bekennen.«
»Ich brauche dieses Bekenntnis nicht«, behauptete Virginia. In Wahrheit, und das wusste sie genau, hätte sie sagen müssen: Ich möchte mich nicht zu dir bekennen.

A
ls im Nachbarhaus eine junge Familie einzog, begann sich Michael eng mit diesen Leuten anzufreunden. Besonders der siebenjährige Sohn Tommi hatte es ihm angetan.
»So einen Jungen möchte ich auch einmal haben«, sagte er oft zu Virginia, bis diese ihn eines Tages entnervt anschnauzte: »Jetzt lass mich endlich damit in Ruhe! Wenn du eine Gebärmaschine haben willst, musst du dir eine andere Frau suchen!«
Für eine Weile sagte er nichts mehr, aber das Thema stand auch unausgesprochen ständig zwischen ihnen, und Virginia begann sich zu fragen, wie lange ein Zusammenleben unter diesen Umständen funktionieren würde. Im Grunde wusste sie, dass sie ihn verlassen würde, sobald sie die Wunden, die Andrew ihr zugefügt hatte, lange genug geleckt und ihr Selbstvertrauen und ihre Lebensfreude im alten Umfang wiedergefunden haben würde. Manchmal plagte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Dann wieder sagte sie sich, dass Michael es längst spüren musste, dass sie seine Gefühle nur unvollständig und in höchst reduzierter Form erwiderte, und es war nicht ihr Problem, wenn er sich beharrlich selbst etwas vormachte.
Tommi, der Nachbarsjunge, war bald täglich bei ihnen zu Gast. Abends, wenn sie beide aus Cambridge zurückkehrten, stand er häufig schon vor der Haustür und wartete.

M
ichael!«, schrie er dann. »Michael!« Und Michael lief hin zu ihm, hob ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Er nahm ihn mit in die Küche, wo er ihm beim Kochen helfen und ein richtiges Chaos anrichten durfte, oder er sah mit ihm fern oder ließ ihn an seinem Computer spielen. Als Michael im Sommer genug Geld gespart hatte, um sich ein Auto kaufen zu können, wollte Tommi sich nur noch damit beschäftigen. Stundenlang hockten er und Michael in dem Wagen, Tommi auf dem Fahrersitz, mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen. Manchmal ließ Michael sogar den Motor laufen. Tommi tat so, als sei er ein berühmter Rennfahrer, der auf den Rennbahnen von Monza oder Monte Carlo gerade alle anderen Teilnehmer weit hinter sich ließ.
Etwas verärgert dachte Virginia von Zeit zu Zeit, dass es Michael in der für ihn typischen Art und Weise wieder einmal hemmungslos übertrieb. Wenn er einen Menschen mochte, klammerte er sich an ihn, verschlang ihn förmlich mit Haut und Haaren. So machte er es seit Jahren mit ihr, so geschah es nun auch mit diesem kleinen Jungen. Stets gewann man den Eindruck, dass er jeden, den er einmal ins Herz geschlossen hatte, am liebsten für immer und ewig an sich ketten wollte.
Übertrieben, dachte sie, und wie unreif er sein kann!
Andererseits verschaffte ihr seine Zuneigung zu Tommi gewisse Freiräume. In der Zeit, die er mit dem Jungen verbrachte, konnte sie ihren eigenen Dingen nachgehen, ohne ständig befürchten zu müssen, dass er sie in der Heiratsfrage bedrängte. Zudem hoffte sie, er werde das Thema eigenen Nachwuchses weniger häufig anschneiden, wenn er seine Leidenschaft für Kinder anderweitig stillen konnte. Also sagte sie nichts und ließ ihn gewähren, schüttelte nur im Stillen den Kopf über ihn.
Eines Tages sagte Michael: »Es wäre gut, wenn wir die Garage freiräumen und den Wagen darin parken könnten. Tommi ist verrückt nach dem Auto, und ich habe Angst, dass er sich irgendwann einmal hineinsetzt, wenn ich nicht da bin, und die Handbremse löst. Bei dieser Steillage würde er zwangsläufig auf die Straße rollen.«
Virginia hatte die Garage inzwischen vollkommen mit ihren Gartenutensilien okkupiert. »Das geht nicht. Ich weiß nicht, wohin ich mit meinen Sachen soll!«
»AberÉ«
»Du hast ihn doch so verrückt nach dem Auto gemacht! Das kannst du jetzt nicht mich ausbaden lassen.«
Wie immer mochte er es nicht riskieren, mit ihr in Streit zu geraten. »Okay. Okay. Wir müssen dann aber darauf achten, dass das Auto immer abgeschlossen ist. Dann kann nichts passieren.«
»Alles klar«, sagte Virginia friedlich, »ich passe auf. Versprochen.«
Sie mochte Tommi. Nicht so fanatisch wie Michael, aber sie hatte den fröhlichen Jungen ebenfalls in ihr Herz geschlossen.
Michael lächelte.
»Es ist schön, hier mit dir zu leben«, sagte er.
Sie sah ihn an und dachte: Wie du mich langweilst!
3
Ja«, sagte Virginia, »so war das. Wir lebten dort in St. Ives in einer kleinbürgerlichen Idylle, in der Michael sich sehr wohl zu fühlen begann - sieht man davon ab, dass er mit seinen Heiratswünschen bei mir auf Granit biss und dass ich mich seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Kind beharrlich widersetzte. Ich dachte viel an Andrew, vergrub mich in der Gartenarbeit und hatte ein chronisch schlechtes Gewissen.«
Sie saßen in der Küche, tranken jeder die vierte oder fünfte Tasse Kaffee. Nathan hatte angeboten, ein Frühstück zu machen, aber Virginia hatte erklärt, keinen Hunger zu haben, und Nathan hatte sich stillschweigend angeschlossen. Es war noch früh am Morgen, und obwohl es aufgehört hatte zu regnen, herrschte eine herbstliche Atmosphäre. Kein Sonnenstrahl fiel durch das Geäst der tropfnassen Bäume, die plötzlich noch dichter an die Fenster des Hauses herangerückt zu sein schienen. Virginia, die schon um sechs Uhr morgens ihre Runde durch den Park gejoggt war und nun im dicken Pullover und mit warmen Socken an den Füßen der Kälte trotzte, überlegte, ob sie die Heizung im Haus anschalten sollte.
Dabei haben wir immer noch August, dachte sie.

N
athan war erschienen, als sie gerade das Kaffeepulver in die Maschine füllte, und sie war erstaunt gewesen, wie sehr sie sich darüber freute. Normalerweise hatte sie nichts dagegen, morgens allein in der Küche zu sitzen, ihren Kaffee zu trinken und ihren Gedanken nachzuhängen, aber etwas begann sich in ihr zu verändern in den letzten Tagen. Nicht unbedingt zum Guten, wie sie fand. Sie wurde unruhiger. Ertrug das Alleinsein schlechter. Wälzte sich nachts schlaflos in ihren Kissen und fühlte sich tagsüber gepeinigt von alten Bildern und Erinnerungen.
Natürlich wusste sie, woran das lag. Sie hielt Michael nicht länger in sich verschlossen. Und Tommi. Den kleinen Jungen, den Michael so sehr geliebt hatte. Sie hatte begonnen sich zu öffnen, und nun drängte die Flut stärker und gewaltsamer nach draußen, als sie das geahnt hatte. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie konnte jedenfalls nicht mehr zurück.

S
ie hatte nicht mehr von Michael sprechen wollen, aber während sie und Nathan so da saßen in diesen kühlen, trüben Morgenstunden, hatte sie es doch getan. Sie hatte weitererzählt, einmal mehr verwundert, weshalb sie ausgerechnet diesem Fremden soviel Vertrauen entgegenbrachte. Vielleicht tat sie es, weil er fremd war. Aber nicht nur deshalb. Es hing auch mit ihm, mit seiner Person zusammen. Dieser Mann bewegte etwas in ihr, ohne dass sie genau hätte sagen können, was es war. Sie dachte, dass sie es womöglich auch gar nicht wissen wollte. Dass es besser wäre, darüber nicht einmal nachzudenken.
»Irgendwie hatte die Situation damals Ähnlichkeit mit Ihrer heutigen Situation«, sagte er nun.
Da sie sich gerade mit seiner Person und nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt hatte, brauchte sie eine Sekunde, um zu begreifen, wovon er sprach.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie überrascht.
»Na ja, ein bisschen kommen Sie mir heute so vor wie die Virginia vor ungefähr zwölf Jahren. Nicht wirklich glücklich in der Beziehung, die Sie führen, aber sehr geborgen, sehr beruhigt. TrotzdemÉ ist es nicht das, was Sie suchen.«
Sie fingerte an ihrer Tasse herum. Hatte er recht? Und sollte sie ihm wirklich all diese Einblicke in ihr Leben gestatten?
Ich habe damit angefangen, dachte sie, nun kann ich nicht gut entrüstet sein.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.02.2007