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Lobby-Verbände mieten sich
ihre Demonstranten bei Erento

Nachfrage bei Internet-Firma groß - »Katastrophe für Protestkultur«

Von Dietmar Kemper
Bielefeld/Berlin (WB). Wolfgang Stadler spricht von einer »Katastrophe für die Protestkultur« in Deutschland.« Der Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt Ostwestfalen-Lippe empört sich: »Man kann doch keine Leute kaufen.« Doch, man kann: Die Firma erento vermietet Demonstranten an Lobby-Verbände.
Sieht Verstoß gegen Chancengleichheit: Christoph Degenhart.

So lasse sich »jede Kundgebung groß inszenieren«, verspricht das Unternehmen, das ansonsten Hüpfburgen, Partyzelte, Baumaschinen oder Stripperinnen im Angebot hat.
Erento (Berlin) ist nach eigenen Angaben »Deutschlands größter Vermietmarktplatz im Internet« mit mehr als 750 000 Artikeln. Manche davon sind aus Fleisch und Blut, denn übers Internet können neuerdings auch Rentner, Schüler oder Studenten als »Demonstrier-Willige auf Abruf« angeheuert werden. 280 Männer und Frauen stünden bereit, sagte erento-Sprecher Tilo Bonow gestern dieser Zeitung. Das Interesse an ihnen sei groß: »Es haben schon etliche Verbände bei uns nachgefragt und wollten wissen, wie viele Demonstranten wir liefern können.« Welche Organisationen sich meldeten, wollte Bonow nicht sagen: »Das wäre nicht im Sinne der Kunden.«
Der Frage, ob nicht gravierende Unterschiede zwischen dem Vermieten eines Sportwagens und einem Demonstranten bestünden, wich Bonow aus: »Wir vermitteln die Leute nur, so wie anderes Personal.« Die käuflichen Protestler hätten jedenfalls keine Skrupel: »Ob sie nun für das Produkt eines Unternehmens werben oder ein Transparent mit einer politischen Botschaft hochhalten, ist denen egal.« Außerdem gebe es die Praxis, dass Interessengruppen andere für sich einspannen, in den USA bereits, führte Bonow aus. In Deutschland habe es die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) »beim Protest gegen die Gesundheitsreform vorgemacht«, andere Lobby-Verbände würden jetzt nachziehen.
Medienwirksam kurz vor Weihnachten ließ die Ärzte-Lobby 200 Demonstranten vor dem Berliner Reichstag aufmarschieren. 150 davon wurden für den künstlichen Protest bezahlt, räumte der Sprecher der KBV, Roland Stahl, hinterher ein. Angeblich sollen die Studenten eine Tagespauschale von 30 Euro bekommen haben. Sie hatten Garderobenstangen getragen, an denen 4500 Ärztekittel hingen. Damit wollte die KBV auf die Abwanderung junger Ärzte ins Ausland, etwa nach Großbritannien und Skandinavien, hinweisen. Bereits bei der vom Hartmann-Bund organisierten Ärzte-Demo am 22. September auf dem Gendarmenmarkt sei möglicherweise ebenfalls Geld geflossen sein, meldete der Berliner »Tagesspiegel«. Bei der Zeitung hatte sich ein Mann gemeldet und berichtet, er habe für seinen dreistündigen Einsatz 100 Euro bekommen und dafür ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Kassenpatient« getragen.
Gekaufter politischer Druck widerspreche dem, »was das Grundgesetz mit der Versammlungsfreiheit und dem Demonstrationsrecht beabsichtigt«, kritisierte gestern der Staatsrechtler der Universität Leipzig, Christoph Degenhart. Protestler zu mieten, höhle den Artikel 8 der Verfassung aus und schade darüber hinaus der Glaubwürdigkeit der Demonstranten, die aus uneigennützigen Motiven auf die Straße gingen. Die kollektive öffentliche Meinungsäußerung, wie sie die Verfassung vorsehe, dürfe nicht zu einer Frage des Geldes werden. Finanzschwache soziale Gruppen hätten gar nicht die Mittel, um Demonstranten anzuheuern, die ihrem Protest Nachdruck verleihen. »Solche Praktiken sind nicht nur moralisch höchst problematisch, sondern verstoßen auch gegen die Chancengleichheit«, sagte Degenhart.
Als nicht anstößig empfindet der Wissenschaftler dagegen, dass Gewerkschaften für ihre Mitglieder Omnibusse organisieren und zur Kundgebung fahren. Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Bezirks Bielefeld/Paderborn der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Axel Gerland, sind bezahlte Claqeure undenkbar: »Das würde zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern führen.« Die Arbeiterwohlfahrt OWL wolle und dürfe kein Geld für Teilnehmer von außerhalb ausgeben, betonte Geschäftsführer Stadler. Er hält für entscheidend, dass dann »keine Übereinstimmung zwischen denen besteht, die protestieren, und der Sache, um die es geht.«

Artikel vom 05.01.2007