05.02.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Sie hatte gesagt, ihr sei sterbenselend, sie könne beim besten Willen nicht in die Wäscherei gehen. Janie wusste, dass es ernst sein musste, denn Mum schleppte sich in fast jedem Zustand zur Arbeit. Sie hatte sich dann noch mal erbrochen, schließlich in der Wäscherei angerufen und sich entschuldigt, und sich dann auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt und gesagt, sie glaube sterben zu müssen. Janie hatte sich große Sorgen gemacht, aber fast noch mehr war sie wegen des fremden Mannes beunruhigt gewesen. Um Viertel nach zwei würde er auf sie warten. Sie hatte Mum gefragt, ob sie ihre Freundin Alice besuchen dürfe, das hätte noch eine Chance bedeutet. Aber Mum war sehr ärgerlich geworden. »Einmal bin ich krank! Einmal könnte ich deine Fürsorge gebrauchen! Und da willst du weg! Sehr nett von dir, das muss ich schon sagen!«
Also war Janie geblieben, hatte ihrer Mutter am späteren Nachmittag Tee gekocht und einen geriebenen Apfel serviert und war so unglücklich gewesen wie schon lange nicht mehr. Sicher war der Mann nun sauer auf sie und würde sich nicht mehr blicken lassen.
Am nächsten Tag war Mum wieder gesund gewesen, aber am Sonntag machte es ja keinen Sinn, den Laden aufzusuchen, und Janie hatte kreuzunglücklich zu Hause herumgegammelt. Sie konnte nur beten, dass er tatsächlich am Montag da sein würde. Um seine Motorradzeitschrift zu kaufen.

M
um war zum Glück nicht wieder krank geworden. Und trotz des Bank Holidays ging sie zur Arbeit. Wie viele Arbeitgeber im Land zahlte auch ihre Chefin doppelten Stundenlohn, wenn man den Feiertag ignorierte, und Mum hatte am Morgen erklärt, sie könne jedes zusätzliche Pfund gebrauchen. Nun kam sie aus dem Wohnzimmer, wo sie geraucht und die Wand angestarrt hatte. Wie immer waren ihre Schritte schleppend. Janie fragte sich, wie ein Mensch nur ständig so müde sein konnte.
Jetzt nahm Mum ihren Regenmantel von der Garderobe. Jetzt zog sie ihn an. Strich sich vor dem Spiegel noch einmal über die Haare. Seufzte tief. Sie seufzte jedesmal, bevor sie die Wohnung verlassen und zur Wäscherei gehen musste. Sie hatte einmal zu Janie gesagt, die Arbeit dort sei das Schlimmste, was sie sich je für ihr Leben hätte vorstellen können.
Der Schlüsselbund klimperte leise, als Mum ihn von der Kommode vor dem Spiegel nahm und in ihrer Handtasche verschwinden ließ. Dann ging die Wohnungstür auf. Klappte gleich darauf wieder zu. Mums Schritte verhallten im Treppenhaus.
Mit klopfendem Herzen warf Janie die Bettdecke zur Seite. Sollte sie wirklichÉ? Es war nicht leicht, etwas zu tun, wovon sie so genau wusste, dass Mum es nicht billigen würde. Aber dann dachte sie wieder an die grünen Einladungskärtchen mit den Glückskäfern und den Kleeblättern darauf. An Lampions im Garten und an gemeinsames Würstchengrillen. Sie musste es tun. Sie musste einfach.
Blitzschnell war sie in ihren Jeans, streifte ihr Sweatshirt über. Nahm ein Paar frische Strümpfe aus dem Schrank und zog dann ihre Turnschuhe an. Sie bürstete sich die Haare und steckte sie mit einer Spange aus der Stirn. Sie wollte hübsch und gepflegt aussehen. Hoffentlich war sie nicht völlig durchweicht, bis sie in dem Laden ankam. Sie verließ das Zimmer, schlüpfte in ihr Regencape.
Ihr Herz klopfte noch mehr, als sie die Wohnung verließ.
Sie wusste, warum: Sie hatte schreckliche Angst, er könnte nicht da sein.

4
Es war kurz vor halb drei Uhr am Nachmittag, als Virginia ihren Wagen am Tuesday Market Place in KingÕs Lynn parkte, jenem Platz im Zentrum der Stadt, auf dem in vergangenen Jahrhunderten regelmäßig Hinrichtungen und Hexenverbrennungen stattgefunden hatten. Obwohl es noch immer heftig regnete und die Wolken tief über der Stadt hingen, fühlte sie sich besser als an den Tagen zuvor. Sie wusste nicht, woran das lag, hatte aber das undeutliche Empfinden, es könnte damit zusammenhängen, dass sie begonnen hatte, über Michael zu sprechen. Jahrelang hatte sie sich verboten, an ihn auch nur zu denken, und nun verbrachte sie Stunden damit, einem wildfremden Mann alles über ihn zu erzählen. Und über sich und ihrer beider gemeinsame Geschichte.
Aber nicht wirklich alles. Sie war fest entschlossen: Alles würde Nathan Moor nicht erfahren.

S
ie wollte Livia im Krankenhaus besuchen und dann Kim abholen, aber zuvorÉ Was sie hierher auf den Marktplatz geführt hatte, war ein tollkühner Entschluss, den sie erst kurz vor ihrem Aufbruch gefasst hatte: Sie wollte sich ein neues Kleid kaufen, heute Abend Frederic anrufen und ihm sagen, dass er am Freitag in London mit ihr rechnen durfte.
Ihr eigener Mut verursachte ihr heftiges Herzklopfen, und sie musste sich immer wieder sagen, dass sie sich noch nicht unter Druck gesetzt fühlen musste. Erst heute Abend, wenn sie Frederic Bescheid sagte, begab sie sich in eine Unausweichlichkeit. Noch gehörte ihr Plan ihr ganz allein. Sie konnte mit ihm spielen, konnte ihn ausbauen, verwerfen, was immer sie wollte.
Also mach dich jetzt nicht verrückt, befahl sie sich, du gehst jetzt hin und kaufst einfach das Kleid. Da ist nichts dabei. Im schlimmsten Fall hast du eben das Geld zum Fenster rausgeworfen.

S
ie verließ das Auto und hastete, große Pfützen überspringend, über den Platz. Idiotischerweise hatte sie vergessen, einen Schirm mitzunehmen. Egal. Man kannte sie in der kleinen, feinen Boutique, die sich in zweiter Häuserreihe hinter dem Marktplatz befand, man würde sie dort zuvorkommend behandeln, auch wenn sie völlig durchweicht dort aufkreuzte.
Auf halbem Weg hielt sie inne und beschloss, in dem Schreibwarenladen, an dem sie gerade vorbeikam, nach ein paar Illustrierten oder Taschenbüchern für Livia zu schauen. Sie wusste, dass sie dies auch in der Eingangshalle des Krankenhauses hätte tun können, insofern machte sie sich keine Illusionen über ihr eigentliches Motiv: Sie wollte den Kauf des Kleides wenigstens um ein paar Minuten noch hinausschieben. Ganz gleich, was sie sich vorbetete: In die Boutique zu gehen war der erste Schritt auf einem Weg, der sie zutiefst ängstigte.
Im Laden befanden sich erstaunlich viele Menschen, die wahrscheinlich gar nicht alle etwas kaufen wollten, sondern nur Schutz vor dem Regen suchten. Dem Inhaber, einem grauhaarigen Mann mit Nickelbrille, war das wohl auch klar, denn er blickte ziemlich missmutig drein. Virginia fand, dass man ihm das nicht verdenken konnte.
Der Laden führte auch internationale Presse, und Virginia entdeckte zwei deutsche Magazine, die zwar nicht mehr ganz aktuell waren, aber Livia sicherlich erfreuen würden. Falls sie sie überhaupt wahrnahm. Wenn Nathans Aussage stimmte, gelang es derzeit niemandem, zu ihr durchzudringen.
Sie suchte noch ein Malbuch für Kim aus und drängte sich zwischen den Herumstehenden zur Kasse. Der Grauhaarige fand es sichtlich angenehm, endlich einen echten Kunden vor sich zu haben.
»Verstellen hier nur den Weg und warten, dass es zu regnen aufhört«, brummte er. »Bin ich ein Unterstand oder was?«
»Draußen herrscht aber wirklich die Sintflut«, meinte Virginia und kramte nach ihrem Geldbeutel. Sie zuckte zusammen, als der Ladeninhaber plötzlich brüllte: »Jetzt reichtÕs mir aber! Noch mal sag ich es nicht! Nimmst du gefälligst deine Pfoten da weg?«

A
lle drehten sich um, erschrocken über den plötzlichen Wutausbruch. Ganz hinten im Laden stand ein kleines Mädchen im blauen Regencape vor dem Regal mit Karten aller Art: Geburtstagskarten, Beileidskarten, Hochzeitskarten, Einladungskarten. Die Kleine wurde puterrot und kämpfte sichtlich mit den Tränen.
»Grabscht dauernd die Karten für die Kindergeburtstage an!«, rief der Ladeninhaber. »Ich hab sie schon mal verwarnt! Hör mal, kleine Lady, entweder du kaufst die Karten jetzt, oder du hörst auf, mit deinen Fettfingern Flecken darauf zu machen! Sonst kannst du was erleben!«
»Es ist doch noch ein Kind!«, meinte Virginia beschwichtigend.

I
hr Gegenüber starrte sie entrüstet an. »Die sind aber die Schlimmsten. Die Kinder! Die machen alles kaputt! Sie würden nicht glauben, was ich hier manchmal entdecke, nachdem irgendeine Schülerhorde durchmarschiert ist. Fassen alles an, zerstören mutwillig Bücher und Karten und Andenken. Und klauen wie die Raben. Wissen Sie, in diesen Zeiten ist das hart. Das kostet mich Geld, das ich einfach nicht habe!«
Sie konnte ihn verstehen. Aber das kleine Mädchen, dem jetzt die Tränen über die Wangen liefen, war ganz sicher die falsche Adresse für seinen Zorn. Es sah nicht aus wie jemand, der mutwillig Dinge zerstörte.
Virginia bezahlte ihre Zeitschriften und verließ den Laden. Der Regen wurde um nichts schwächer, und das würde wohl bis zum Abend so gehen. Jetzt gab es keine Ausrede mehr: Jetzt würde sie das Kleid kaufen.
Ehe sie wieder von ihrer Angst überwältigt werden konnte, rannte sie, die Tüte mit den Zeitschriften schützend über den Kopf haltend, zu der Boutique hinüber. Wie immer fand sie eine reiche Auswahl an Cocktailkleidern vor. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.02.2007